Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Mit 80 Jahren blicken Sie auf einiges zurück. Sie haben das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 erlebt, die deutsche Wiedervereinigung 1990...
Joachim Reinelt (Altbischof des Bistums Dresden-Meißen): Ja, das waren schon Höhepunkte.
KNA: Gibt es irgendetwas, das Sie in Ihrem Leben noch überraschen kann?
Reinelt: Es würde mich überraschen und sehr freuen, wenn wieder Schwung in unsere Kirche im Bistum Dresden-Meißen und in die Kirche generell käme. Es gibt ja Chancen – gerade auch durch Papst Franziskus – eine neue Melodie hineinzubringen. Aber ich denke, die Müdigkeit der Menschen im Wohlstand bremst einiges ab.
KNA: Ist das nur eine Sache des Wohlstands, oder inwieweit wirkt auch die DDR-Prägung in den Gemeinden nach? Man hat den Eindruck, dass ostdeutsche Katholiken nicht so unbefangen und selbstbewusst ihren Glauben nach außen tragen.
Reinelt: Das stimmt. Aber ich glaube, der 100. Deutsche Katholikentag in Leipzig im Mai hat ein bisschen zeigen können, dass wir diese alten Ängste langsam überwinden. Zu DDR-Zeiten war man eben darauf bedacht, als Katholik nicht zu sehr bekannt zu werden. Diese Prägung wirkt bis heute nach. In meinen Predigten habe ich seit der Wende immer wieder dazu aufgerufen: Wir müssen uns doch nicht verstecken! Aber es ist ganz, ganz schwer, das nach der langen DDR-Zeit rauszubekommen. Die Jugend ist da unbefangener, aber die ältere Generation hat immer noch Bremsen.
KNA: Beim Katholikentag feierten auf dem Augustusplatz in der Leipziger Innenstadt knapp 20.000 Menschen den Abschlussgottesdienst mit. Hätten Sie das vor 30 Jahren für möglich gehalten?
Reinelt: Ach wo. Das wäre niemals gegangen. In der DDR hatten wir nur ein ähnliches Katholikentreffen in Dresden 1987 mit etwa 100.000 Teilnehmern. Aber das musste schön versteckt stattfinden. Die Menschen in der Stadt bekamen davon kaum etwas mit, und es blieb meines Erachtens ohne große Wirkung. Da hat die "große rote Macht" schon alles daran gesetzt.
KNA: Sie wurden 1988 zum Bischof geweiht. In den 26 Jahren seit der Wiedervereinigung ist nur ein einziger Bischof von Ost nach West gewechselt: Bischof Konrad Zdarsa 2007 von Görlitz nach Augsburg. Bei allen Neubesetzungen von ostdeutschen Bischofsstühlen kamen in den vergangenen Jahren Westdeutsche zum Zuge. Was ist da los?
Reinelt: Wir sind in Ostdeutschland wenige. Und wenn man sich gegenseitig so gut kennt, dann kennt man wechselseitig nicht nur die Stärken, sondern auch die Schwächen. Wenn einer aus dem Westen kommt, kennt man normalerweise eher die Stärken, und deswegen ist bei den Wahlen meines Erachtens auch immer eine gute Entscheidung getroffen worden. Außerdem ist es für die Diaspora nicht so ungewöhnlich. Wir hatten im Laufe der Geschichte schon viele Priester und auch Bischöfe aus dem Westen.
KNA: Aber wäre es nicht auch psychologisch ein wichtiges Zeichen, wenn wieder mal ein Ostdeutscher Bischof würde. Sei es in Ost oder in West?
Reinelt: Richtig. Und es gibt bei uns durchaus gute Leute. Ich könnte meinen Mitbrüdern im Westen ohne weiteres eine Reihe von ostdeutschen Namen nennen, die in der Lage wären, ein westdeutsches Bistum gut zu leiten. Sicherlich täte das auch dem Selbstbewusstsein des Katholizismus im Osten gut.
KNA: Blicken wir auf die politische Situation in Sachsen. Seit der Flüchtlingsdebatte ist die Stimmung dort in Teilen regelrecht vergiftet, die Ablehnung hoch. Wie erleben Sie das?
Reinelt: In den Pfarrgemeinden ist es genau umgekehrt. Sie sind fast durchweg offen für die Flüchtlinge und bemühen sich zu helfen. Aber auch in der sächsischen Gesellschaft versteht der Großteil diese Attacken gegen Flüchtlinge nicht und ist wütend darüber. Diese massive Fremdenfeindlichkeit geht nur von einer Minderheit aus.
KNA: Der Umgang der Mehrheit mit dieser fremdenfeindlichen Minderheit wirkt aber oftmals ziemlich hilflos, oder?
Reinelt: Das ist richtig. Das Problem ist, wenn allein das Materielle mein Leben erfüllt und es darüber hinaus keine tiefe Sinngebung gibt – wie sie etwa der Glauben vermittelt –, dann bin ich fast zwangsläufig gegen jeden, der mir auch nur einen Euro wegnimmt. Der gegenwärtig aufkeimende Hass in Sachsen ist auch die Schuld einer Gesellschaft, die über Jahrzehnte den Glauben diskriminiert hat. Da darf man sich nicht wundern, dass ein Volk, das innerlich so ausgeblutet ist, wegen jedes Euro schreit, den man einem anderem schenkt.
KNA: Sie denken also, dass der verbreitete Atheismus mit dazu beiträgt, dass Fremdenfeindlichkeit aufkeimt?
Reinelt: Ja, ich glaube durchaus, dass das damit zusammenhängt. Insgesamt ist das schon eine traurige Situation.
KNA: Wenden wir uns wieder Ihnen persönlich zu. Eine letzte Frage zu den letzten Dingen: Denken Sie mit 80 anders über den Tod nach als noch mit 70 Jahren?
Reinelt: Ja, ganz klar. Es ist alles viel näher, was mit den letzten Jahren – oder Tagen, das weiß man ja nicht – zusammenhängt. Das ist auch eine neue Herausforderung des persönlichen Glaubens. Aber ich glaube eben an einen Gott der Barmherzigkeit und der Liebe, und ich freue mich auf die Begegnung dann mit ihm – und mit den vielen, die ich in meinem Leben als gute Menschen kennengelernt habe. Ich bin bereit. Aber – wie heißt der schöne Spruch: "Lieber Gott, es muss ja nicht gleich sein."