"Vertrauensverhältnisse" heißt die Autobiografie, die Rudolf Seiters geschrieben hat. 33 Jahre war der ehemalige Bundesinnenminister Mitglied im deutschen Bundestag und ist seit 2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. In seinem Buch beschreibt er aber nicht nur die Herausforderungen, die mit der Flüchtlingskrise vor uns stehen, er zieht auch Parallelen zur Situation Anfang der 90er Jahre. Seiters fordert eine europäische Antwort auf die Dramen der Welt und erzählt von seinen katholischen Wurzeln. "Wer seine Wurzeln nicht kennt, kommt in der Politik nicht weit", sagt er.
Gläubiger Katholik
"Die Aufgaben und Lasten, die uns auferlegt sind, lassen sich mit der Gewissheit tragen, dass Gott nie weiter als ein Gebet von uns entfernt ist", sagt der gläubige Katholik Seiters. Aus dieser Gewissheit wachse die Dankbarkeit gegenüber Gott, "bei dem wir wunderbar geborgen sind und bleiben an allen Tagen unseres Lebens". Seiters betet täglich, betont aber, dass er seinen katholischen Glauben nicht plakativ vor sich her trage, weil es auch schwierig sei, darüber zu sprechen. Sein Gebet sei ein leises Gebet.
"In Bonn hat man mehr Rücksicht genommen auf das Privatleben der Politiker", sagt der ehemalige Kanzleramtschef und vertraute Mitarbeiter von Helmut Kohl. Heute sei der Konkurrenzkampf in den Medien viel größer, dazu kämen Facebook und Twitter, das setze die Politik und die Politiker unter einen immer größeren Druck und die Atmosphäre sei sehr viel aggressiver. "Das Privatleben der Politiker wurde damals noch geachtet", sagt er, "das gilt für die Berliner Republik nicht mehr".
Seiters ist froh, dass es 1990/91 auf dem Weg zur Wiedervereinigung keine Internetkommunikation über soziale Netzwerke gegeben habe. "Die Situation war so sensibel. Wir duften nicht provozieren gegenüber Moskau und Paris, nicht gegenüber den westlichen Staaten. Wenn dieser Weg von all dem, was Facebook und Twitter möglich machen, begleitet worden wäre, dann wäre das sehr negativ gewesen".
Angst um europäisches Gesicht
Damals hat Europa ein neues Gesicht bekommen und einen neuen gemeinschaftlichen Geist, den Seiters heute bedroht sieht. Viele Länder schotten sich ab, wollen die Grenzen dicht machen und rechte Politiker predigen einen neuen Nationalismus. Rudolf Seiters kann das nicht verstehen. Er schüttelt den Kopf, wenn er zum Beispiel daran denkt, was gerade in Ungarn passiert: "1989 hat Ungarn als erstes die Grenzen geöffnet. Das war damals sehr human," erzählt er, "wenn man dann heute sieht, dass Ungarn Mauern baut, dann wird man schon sehr nachdenklich". Seiters hofft, dass Europa auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten wieder zu der Erkenntnis kommt, dass kein Land mit Nationalismus seine Probleme lösen kann.
Verständnis für Angela Merkel
Über Angela Merkels Satz "Wir schaffen das", sagt Seiters, Angela Merkel habe vor einem Jahr in einer Situation, die für sie an der ungarischen Grenze unerträglich gewesen sei, sehr christlich gehandelt. Er glaubt nicht, dass Merkel damit den Ansturm der Flüchtlinge auf Deutschland beschleunigt hat. "Europa hat viel zu lange zugeschaut und zeigte sich deshalb hilflos, als der Strom der Flüchtlinge damals anschwoll".
Eine globale Solidarität hält Seiters in dieser Weltlage für eine Utopie. "Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, was wir leisten können", sagt er, "und wenn jeder von uns auch nur einen kleinen Beitrag leistet, jeder an seinem Platz, dann hoffe ich, dass der Blick in die Zukunft etwas heller wird als zurzeit".