domradio.de: Was ist letzte Nacht passiert?
René Schulthoff: Wir bekamen die Information vom Koordinierungszentrum in Rom, dass drei Boote östlich von Tripoli in Gefahr sind. Wir waren gerade unterwegs zur libyschen Seegrenze und sind noch rechtzeitig eingetroffen, um das Boot zu finden, denn es wurde schon dunkel. Die Rettungsaktion geschah dann noch dazu bei strömenden Regen in der Dunkelheit. Aber glücklicherweise konnten wir alle Menschen, die auf diesem kleinen Plastikboot waren, retten – darunter waren auch einige Kinder.
domradio.de: Was passiert jetzt mit den Menschen, die Sie gerettet haben?
Schulthoff: Sie sind erst einmal alle zu uns an Bord gekommen. Sie waren alle unterkühlt. Glücklicherweise gibt es kein schwereres medizinisches Problem. Wir haben "Ärzte ohne Grenzen" an Bord, die sich um die Frauen und die Kinder und alle an Bord kümmern. Alle Geretteten haben ein Hilfspaket bekommen: Da sind eine Decke, ein Trainingsanzug, Socken und weitere Utensilien drin, um sich vor der Kälte zu schützen. Die Menschen müssen ja an Deck bleiben, bis wir sie an Land gebracht haben. Nur die Frauen und die Kindern sind im Innern unseres Schiffes.
domradio.de: Gibt es seelsorgerische oder therapeutische Betreuung an Bord? Ich könnte mir vorstellen, dass die Geretteten auch traumatisiert sind.
René Schulthoff: Das sind sie wohl alle. Und alle, die hier an Bord sind, sind auch ein bisschen Seelsorger. Das wichtigste ist, die Leute freundlich zu empfangen, mit ihnen zu sprechen, wenn sie es wollen. Also wir bedrängen sie nicht, ihre schrecklichen Geschichten erzählen. Aber nachdem sie einige Stunden an Bord sind, kommen sie von alleine auf uns zu und möchten uns diese schrecklichen Erlebnisse wie Vergewaltigung, Folter, Zwangsarbeit, immer wieder Gefängnis und Schlägen und Tod erzählen. Das ist auch für uns ganz schlimm, aber wir haben natürlich ein offenes Ohr und wollen diese Dinge auch publik machen. Das sind die sogenannten Testimonies (Anm.d.Red.: Augenzeugenberichte), die belegen, was die Menschen durchgemacht haben.
domradio.de: Gibt es auch aggressive Reaktionen auf ihr Angebot, Menschen aus Seenot zu retten?
René Schulthoff: Bei denen, die wir retten, natürlich nicht. Es gibt natürlich immer wieder die Frage, ob wir durch diese Rettungsaktionen nicht die gefährliche Flucht unterstützen würden. Das ist aber völliger Quatsch. Es ist belegt, dass die Menschen auch geflüchtet sind, als es noch keine Seenotrettung dieser Art gegeben hat. Es geht nicht darum, dass wir hier sind, um sie zu retten, denn es ist auch mit viel Glück verbunden, dass wir ihre kleinen Boote finden. Die Menschen sind einfach am Ende angekommen und kennen keinen anderen Ausweg mehr. Sie sagen uns auch, wenn sie an Bord kommen, dass sie lieber im Mittelmeer sterben würden, als die Folter, die Vergewaltigung und die Qualen in Libyen weiter aushalten zu müssen.
domradio.de: Wie erfahren Sie, dass ein Flüchtlingsboot unterwegs ist?
René Schulthoff: Wir halten ab morgens ganz früh den ganzen Tag über Ausschau. Wir haben Wachen mit Ferngläsern und patrouillieren an der Küste entlang. Es gibt aber auch ein Koordinierungszentrum in Rom, das über Aufklärungsmöglichkeiten wie Radar, Satellit oder andere Schiffe im Mittelmeer verfügt. Sie schicken uns dann die Koordinaten eines Flüchtlingsbootes. Die Schmuggler geben aber auch den Flüchtenden in den Booten ein Satellitentelefon mit, dann rufen sie schnell und versenken das Telefon im Wasser. So kann festgestellt werden, von wo der Notruf kam, und wir fahren dorthin.
domradio.de: Können Sie dann überhaupt an Bord des Aquarius Weihnachten feiern?
René Schulthoff: Wir haben einen Weihnachtsbaum unten in der Messe stehen, der von der gesamten Besatzung geschmückt worden ist. Es gibt so kleine Girlanden und Weihnachtskugeln und Lichter. Jeder hat ein Geschenk gekauft; wir wollen uns mit Kleinigkeiten gegenseitig beschenken. Aber wann wir das genau machen können, weiß ich nicht. Wir sind jetzt wieder auf dem Weg Richtung Norden, um die Flüchtlinge, die wir an Bord haben, an Land zu bringen. Vielleicht gibt es heute oder morgen die Gelegenheit, wenn wir ein bisschen unter uns sind, auch ein wenig Weihnachten zu feiern.
Das Interview führte Tommy Millhome.