Dies sei weder in Politik noch Gesellschaft geschehen. Viele der Täter, Ärzte und Wissenschaftler seien Universitätsprofessoren geworden, so Lammert. Die Zahl der sogenannten NS-Euthanasie-Opfer wird auf 300.000 geschätzt. "Das Gedenken überhaupt möglich wurde, verdanken wir dem unermüdlichen Engagement Einzelner", betonte der Bundestagspräsident.
Erst 2007 habe der Bundestag das NS-Zwangssterilisation-Gesetz geächtet und erst 2014 sei der "Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde" in Berlin eröffnet worden. "In dem wir die Leidensgeschichten an uns heranlassen, geben wir den Opfern ihre Würde zurück", sagte Lammert.
Vorsätzliche und systematische Tötung
Die sogenannten NS-Euthanasie-Morde seien dabei wie ein Probelauf für die "vorsätzliche und systematische Tötung" Millionen Verächteter gewesen, so Lammert. Kaum jemand habe gegen die Euthanasie-Morde aufbegehrt. Der Bundestagspräsident erinnerte an den katholischen Münsteraner Bischof Clemens A. von Galen und den württembergischen evangelischen Landesbischof Theophil Wurm. Es seien einzelne Vertreter der christlichen Kirchen gewesen, die den Mut hatten, "sich dem inhumanen Zeitgeist zu widersetzen", so Lammert. "Widerstand war gefährlich, aber er war nicht unmöglich."
Der Mülheimer Philosoph Hartmut Traub, dessen Onkel Benjamin 1941 in der Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar ermordet wurde, bekräftigte: "Erinnern ist mehr als bloßes zur Kenntnis Nehmen". Es gehe jeden Einzelnen "innerlich an, es betrifft uns".
Die Berliner Publizistin Sigrid Falkenstein berichtete vom Schicksal ihrer Tante Anna Lehnkering, die laut Nazis an "angeborenem Schwachsinn" litt und ermordet wurde. Es sei an der Zeit, die Namen der Opfer zu nennen, um sie ins familiäre und kollektive Gedächtnis zurückzuholen, bekräftigte Falkenstein.
Programm zur Erinnerung an Euthanasie-Opfer
Der Schauspieler Sebastian Urbanski, der 1978 mit dem Down-Syndrom zur Welt kam, las aus einem Brief von Ernst Putzki an seine Mutter. Putzki wurde 1945 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet und beschreibt in dem Brief, wie er und seine Mitgefangenen auf den Hungertod warten. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) hatte Urbanski zuvor eine anhaltende Ausgrenzung von Menschen mit Down-Syndrom beklagt.
Der Hornist Felix Klieser und der Pianist Moritz Ernst spielten in der Gedenkstunde Kompositionen von Norbert von Hannenheim, dessen Werk von den Nazis als "entartet" bezeichnet wurde. Klieser kam ohne Arme zur Welt und spielt sein Instrument mit dem linken Fuß. "Ich glaube, die große Gefahr besteht darin, dass wir Dinge wahrnehmen, aber die Vorstellungskraft nicht besitzen, wie weit sich Strömungen entwickeln können", sagte der 25-Jährige der KNA.
Jeweils am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Holocaust gedacht. Das Datum erinnert an die Befreiung des größten NS-Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945.