Essen mutiert in der Wohlstandsgesellschaft zur Ersatzreligion

Gegen den Einheitsbrei

Vegetarier, Paleo- oder Vollkost-Anhänger liefern sich erbitterte Debatten um die beste Ernährung. Kochen wird zum Kult. Wer "richtig" isst, scheint ein guter Mensch zu sein. Essen mutiert so fast zur Ersatzreligion.

Autor/in:
Andreas Öhler
Eine 450 Jahre alte Hausbibel zwischen frischen Kräutern und Ölen / © Katharina Ebel (KNA)
Eine 450 Jahre alte Hausbibel zwischen frischen Kräutern und Ölen / © Katharina Ebel ( KNA )

"Die metaphysische Bestimmung dieser Gans ist es, von uns verspeist zu werden", rief der Freund beim gemeinsamen Abendmahl. Wie ein Chefdirigent mit zwei Taktstöcken hob er feierlich sein Tranchierbesteck, senkte bedächtig die Lider, als erklänge gleich die Ouvertüre einer Oper. Das Magenknurren der geladenen Gäste klang wie das Einstimmen der Streichinstrumente. Der Maestro ließ sich beim Zerlegen Zeit, sehr viel Zeit. In dieser Zeit hätte ein Herzchirurg schon zwei Transplantationen durchgeführt. Das Resultat: Fleisch, Rotkohl, Serviettenknödel - alles kalt. Wer glaubte, man sei zum Essen da, täuschte sich. Das war allenfalls ein angenehmer Begleiteffekt in der den Gästen zugedachten Inszenierung. Es ging um das Ritual, das etwas Hohepriesterliches hatte. Ein Opferritus aus grauer Vorzeit, einem magischen Akt glich dieses weihevolle Zelebrieren.

Seit sich die Lebenswelt immer mehr von der Religion entfremdet, führen Kulinarik und ihr Gegenteil, die Askese, ein rituelles Eigenleben. Das ist ein Überflussphänomen: Wo ein Überangebot an Waren herrscht und Völlerei - die Todsünde des Mittelalters - als nicht salonfähig gilt, werden die einzelnen Ingredienzien aufgeladen, als seien sie aus einem Reliquienschrein entnommen.

Mit der Industrialisierung der Lebensmittel haben wir uns von der Nahrung entfremdet. Kinder wissen oft nicht mehr, dass die Milch von der Kuh stammt und die Eier vom Huhn. Schließlich kommen sie aus dem Karton und die Milch nicht aus dem Euter, sondern aus dem Tetrapack.

Solches Unwissen kann auf Dauer nicht gut sein. Eine Gegenbewegung bahnt sich inzwischen ihren Weg. Die Verkultung des Essens zur Ersatzreligion begann mit der Slow-Food-Bewegung. 1986 gründete der Italiener Carlo Petrini im italienischen Ort Bra im Piemont auf einem Schloss im Herzen des Barolo-Weinanbaugebietes dazu einen Verein.

Slow-Food ist eine Gegenbewegung zur Fast-Food-Kultur. Genuss, Qualität und Geschmack sollten wieder eine kulturelle Lobby haben. Der Genuss steht dabei im Mittelpunkt, weil jeder Mensch ein Recht darauf habe.

Mehr als subjektive Geschmackssache

Als Voraussetzung für Genuss verorteten die Initiatoren die ökologische, regionale, sinnliche und ästhetische Qualität. Geschmack sei keine subjektive Geschmackssache, sondern besitze "eine historische, kulturelle, individuelle, soziale und ökonomische Dimension".

Die fortwährende Verfeinerung des Geschmacks erforderte immer weitere Geschmacksrevolutionen und Food-Kreationen. Gleichzeitig wurde als Gegenmoment zur Globalisierung und ihrem Einheitsbrei die regionale Traditionsküche wiederbelebt, allerdings in aufgepeppter Variante.

Dass Speisen nun zum Designfood werden, dass sie ein Fest für das Auge sind und erst in zweiter Linie der Einverleibung dienen, hat religiöse Bezüge. Die Runde bei Tisch wird zur verschworenen Gemeinschaft von Eingeweihten. Kulinarische Clubs entstehen, in denen kochende Männer sich strengen Initiationsriten unterziehen. Der Rundfunk-Journalist Carsten Otte hat in Baden-Baden einen Club initiiert, in dem es ums Kochen geht. Sein Buch "Der gastrosexuelle Mann" wurde zum Kultbuch dieser neuen snobistischen Genussbewegung, bei der die Übergänge zwischen Dekadenz und Hedonismus fließend sind.

Gourmetpapst und Gourmet-Bibel

Begriffe wie Gourmetpapst oder Gourmet-Bibel verweisen eindeutig auf die ersatzreligiöse Dimension des Essens. Das hat auch mit den rituellen Abläufen, den streng reglementierten Handlungen zu tun, die im Spitzenkochgewerbe so festgelegt sind wie die Liturgie der katholischen Kirche. Auch die Strenge Hierarchisierung der Kochzunft ist vergleichbar mit der Struktur der römischen Kirche. Jeder kennt seinen Platz, der Rahmen seiner Tätigkeit ist strikt abgesteckt.

Der Ausspruch "Leben wie Gott in Frankreich" gibt vor, das Gott für kulinarische Genüsse empfänglich sei. In Wahrheit ist es eine Erinnerung an die antiken Götter, die sich bei ihren ausschweifenden Gelagen die Zeit vertrieben.

Auch in der Fastenzeit wird dieser Exzess weiter betrieben. Wie viel Sorten von Tafelwasser mit Jahrgangsbezeichnung es inzwischen gibt, ist kaum noch zu überschauen. In welch opulenten Zeiten leben wir, dass wir selbst beim Hungern noch zwischen Luxusvarianten wählen können.


Quelle:
KNA