In diesem Jahr jährt sich Claudio Monteverdis Geburtstag zum 450. Mal. Noch vor 50 Jahren war er weitgehend vergessen, mittlerweile gehören seine Werke wieder fest zum Konzertrepertoire, vor allem seine Opern und die geistliche Musik.
domradio.de: Monteverdi als Revolutionär. Passt diese Bezeichnung?
Prof. Dr. Silke Leopold (Musikwissenschaftlerin und Buchautorin): Ja und nein. Sie passt, weil er tatsächlich die Musikgeschichte sehr verändert hat und seine Werke Vorbild geworden sind für sehr viele andere Komponisten, die ihm vor allem bei seinen dramatischen Ideen gefolgt sind. Nein würde ich sagen, weil zu einem Revolutionär immer die Idee gehört, dass das Alte umgestürzt wird und für überflüssig erklärt wird. Das ist bei Monteverdi überhaupt nicht der Fall. Das revolutionär Neue stellt er gleichberechtigt neben das Alte. Und er sagt, und das ist ja auch der Begriff, an dem dieser Epochenwandel immer festgemacht wird, es gibt eine erste und eine zweite Praxis - prima prattica und seconda prattica. Beide haben ihre Berechtigung - je nachdem, an welcher Stelle sie eingesetzt werden.
domradio.de: Nicht wenige Musiker sagen, der Stilwechsel, für den Monteverdi steht, sei vergleichbar mit dem frühen 20. Jahrhundert, als der Schritt von der tonalen zur atonalen Musik kam. Warum ist denn der Stilwechsel, für den Monteverdi steht, so bahnbrechend?
Leopold: Das ist ganz sicher richtig. Es geht vielleicht sogar so weit, dass wenn man jetzt etwas ahistorisch argumentieren würde, sagen könnte: Monteverdi schreibt an manchen Stellen wirklich atonal. Das neue an seinem Stil ist, und das hat er selbst auch immer wieder betont, dass er nicht mehr den Tonsatz in den Mittelpunkt stellt, sondern dass er die Regeln des Tonsatzes überschreitet beziehungsweise ignoriert, weil er der Textaussage oder besser der Aussage der menschlichen Befindlichkeit Raum geben möchte. Er schreibt - und das auch in seiner Musik: Wenn ein Mensch außer sich ist vor Schmerz oder vor Freude, muss ich das hören können. Ich muss es dem Zuhörer unmittelbar mitteilen können. Und das kann ich nicht, indem ich die Regeln des Tonsatzes einhalte. Ich kann es nur, indem ich extreme, unerlaubte Dissonanzen schreibe, um diesem Schmerz wirklich eine Stimme zu geben.
domradio.de: Man sagt ja auch immer so ein bisschen leichtfertig, Monteverdi war der letzte Madrigalist. Madrigale sind mehrstimmige weltliche Gesänge, die diesem strengen Kontrapunkt gefolgt sind. Außerdem sei er zugleich der erste Opernkomponist gewesen. Kann man das so sagen bei ihm?
Leopold: Das kann man an vielen Stellen lesen, das ist in beiden Fällen nicht ganz richtig. Aber es steckt auch ein Körnchen Wahrheit drin. Er war natürlich nicht der letzte Madrigalist, mehrstimmige Madrigale hat man bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts geschrieben und darüber hinaus. Und dass Monteverdi nicht die erste Oper geschrieben hat, wissen wir auch, weil die erste Oper sieben Jahre vor seiner ersten Oper "Orfeo" entstanden ist.
Aber es stimmt insofern, als Monteverdi immer ein sehr denkender Komponist war, der sich immer genau überlegt hat, was er mit seiner Musik erreichen will. Da stimmt es schon, dass er das Madrigal in einen Aggregatzustand überführt hat, in dem es selber sehr dramatisch wurde. Er hat die fünf Stimmen des polyphonen Satzes sehr stark zu einer Persönlichkeit zusammengefasst, sodass man auch im Madrigal immer das Gefühl hat, der Schmerz oder die Freude, die hier ausgedrückt wird, kommt aus einer menschlichen Seele und nicht aus fünf Stimmen eines Tonsatzes.
Erster Opernkomponisten stimmt insofern, als dass er auch wieder aus der Musik heraus gedacht hat und nichts getan hat, was die allererste Opernkomponisten in Florenz sieben Jahre zuvor getan haben - also alles musikalische reduziert haben, um dem Sprachcharakter der Musik gerecht zu werden. Monteverdi ist dem Sprachcharakter der Musik gerecht geworden, indem er diesen deklamierten Text mit einem instrumentalen Satz verbunden hat, der seinerseits eine dramatische Aussage hatte. Durch diese Kombination von Instrumentalsatz und Vokalstimme und die Dissonanzen und Konsonanzen, die er ganz gezielt und bewusst gesetzt hat, hat er so etwas wie eine musikalische Inszenierung veranstaltet.
domradio.de: Jetzt haben wir schon viel über Monteverdi als Musiker gehört. Es ist ja bekannt, dass er Hobbyalchemist war, in späten Jahren ließ er sich zum Priester weihen. Gleichzeitig schrieb er hocherotische Opern. Das klingt ja alles erstmal ein bisschen widersprüchlich. Was weiß man denn über seine Persönlichkeit?
Leopold: Man weiß mehr über Monteverdi als über die meisten anderen Komponisten seiner Zeit, weil wir von ihm etwa 130 Briefe kennen. Nun gibt es aber bei Briefen immer ein Problem, das wir auch von Mozart kennen: Wir lesen diese Briefe und denken, wir haben die Persönlichkeit vor uns, die aus diesen Briefen spricht. Da muss man etwas vorsichtig sein, weil Menschen natürlich auch immer eine Maske tragen, wenn sie Briefe schreiben - und ein Bild von sich zeichnen, das vielleicht nicht mit dem Bild zu tun hat, das dieser Mensch selber auf andere einwirken lassen würde. Da muss man bei Monteverdi sehr genau lesen.
Die meisten Briefe, die wir kennen, sind nicht an Freunde und Familie gerichtet, sondern an offizielle Persönlichkeiten, zumeist an Leute, mit denen er am Mantuaner Hof zu tun hatte. Da schreibt Monteverdi natürlich auch wie ein Höfling und versteckt seine Botschaften oft zwischen den Zeilen. Das gebietet das gute Benehmen und natürlich auch, dass er immer etwas von den Personen will. Man muss diese Briefe sehr oft und sehr genau lesen.
Das Lustige bei Monteverdi ist, dass je mehr er will, je mehr er auch etwas sagen will, was vielleicht nicht dem Dekorum entspricht, umso geschraubter werden seine Sätze. Ich habe diese Briefe jahrelang immer wieder gelesen und auch Jahre gebraucht, bis mir so manche Spitzen, die da versteckt sind, aufgefallen sind. Man muss sich viel Zeit nehmen, aber das muss man bei jeder Person, der man begegnet im normalen Leben, wenn man sie wirklich kennenlernen will. Wir tragen ja alle Masken.
domradio.de: Monteverdi war wohl der berühmteste Komponist seiner Zeit, viele Kollegen kamen sogar aus anderen Ländern, um von ihm zu lernen. Auch Heinrich Schütz besuchte Venedig. Warum wurde ausgerechnet im evangelisch geprägten Deutschland die neue Musik aus dem katholischen Italien so gekonnt aufgenommen und perfekt in die deutsche Musiktradition integriert? Oder stimmt die These gar nicht?
Leopold: Die These stimmt, aber es war nicht nur Heinrich Schütz, der diese Musik nach Deutschland gebracht hat. Wir finden in der Mitte des 17. Jahrhunderts ganz viel Musik Monteverdis in deutschen handschriftlichen Quellen: Einfach abgeschrieben, teilweise auch bearbeitet, übersetzt ins Deutsche, weltliche Madrigale übersetzt in protestantische deutschsprachige Kirchentexte. Das hat mit der Qualität der Musik zu tun.
Musik ist ja für sich selber genommen unschuldig. Sie ist weder katholisch noch evangelisch, noch ist sie revolutionär, sondern wird durch den Text oder den Kontext dazu. Offensichtlich haben eine ganze Reihe norddeutscher Musiker, die immer auf der Suche waren nach neuer Kirchenmusik, diese musikalische Qualität Monteverdis sehr geschätzt. Sie haben dann einfach neue Texte dazu gedichtet und die Stücke damit für den protestantischen Gottesdienst fit gemacht.
Ein wunderbares Beispiel dafür ist Matthias Weckmann, der ein „Salve Regina“ von Monteverdi - was nun wirklich ein katholischer Text ist - gerne in seiner Hamburger protestantischen Kirche aufführen wollte. Deswegen hat er den Text verändert zu "Salve Mi Jesu". Und dann ging das, weil Jesus die biblische Figur ist, die man auch im protestantischen Gottesdienst darstellen konnte. Wir finden ziemlich viele solcher Beispiele in der norddeutschen protestantischen Kirchenmusik dieser Zeit.
domradio.de: Ihr Buch endet mit einer interessanten These. Sie sagen, der Göttervater Zeus auf dem Olymp bevorzuge die Musik von Monteverdi. Wie meinen Sie das?
Leopold: Ich habe das eingebunden in diese wunderbare Bemerkung von Carl Barth: "Wenn die Engel für Gott musizieren, spielen sie Bach. Aber wenn sie unter sich sind, spielen sie Mozart." Das geht dann noch weiter: "Wenn sie für sich sind und Mozart singen, lauscht der liebe Gott an der Tür". Das finde ich immer noch eine sehr schöne und sehr knappe Beschreibung davon, was die Essenz dieser Musik ist.
Nun ist es so, dass zu Monteverdis Tod eine ganze Sammlung von Gedichten von vielen Wegbegleitern aus Venedig herausgegeben wurde. Ein Professor schrieb in diesem Zusammenhang, dass Monteverdi auf Erden die Chöre des Markusdoms geleitet habe. Jetzt sei er in den Himmel gegangen, um die himmlischen Chöre zu leiten, und die Götter würden ihm dabei zuhören.
Ich fand das ein wunderbares Bild, um zu zeigen, was Monteverdis Musik vielleicht in ihrer Essenz ausmacht: Es ist eine Musik, die mit der Antike spielt, die die Antike mindestens so wichtig nimmt wie das Christentum und wie die kirchliche Liturgie. Eine Musik, in der die antiken Mythen nicht nur in ihren Erzählungen, sondern auch in ihrer Essenz eine Rolle spielen. Deswegen habe ich mir erlaubt, dieses Bonmot von Carl Barth weiterzuformulieren.
Das Interview führte Mathias Peter.