Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Welchen Stellenwert haben Smartphones im Alltag von Menschen mit Behinderung?
Verena Bentele (Behindertenbeauftragte der Bundesregierung): Heute kann sich fast keiner mehr ein Leben ohne die Technologie vorstellen - das gilt für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen. Gerade für Menschen mit Behinderungen bedeutet die Technik ein ungeahntes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung. Es sind Sachen möglich, die früher überhaupt nicht machbar waren.
KNA: Haben Sie Beispiele?
Bentele: Dazu gehört die Möglichkeit, sich Texte per Handy vom Blatt Papier scannen zu können, die dann vorgelesen werden. Im Supermarkt kann der Barcode eines Produktes mit einer App gescannt werden - bei registrierten Produkten wird die Verpackung vorgelesen. Das sind großartige Möglichkeiten, genauso wie Apps für Informationszugänge. Zeitunglesen etwa, das Anschauen von Fahrplänen der Busse und Bahnen oder eine genaue Navigation sind jetzt viel einfacher.
Auch gibt es Applikationen, die die Barrierefreiheit von Orten - etwa Sehenswürdigkeiten, Parkplätzen oder Restaurants - aufzeigen. Zudem können einige Anwendungen Menschen mit Sprachbehinderungen bei der Kommunikation helfen. Sie geben ihr Anliegen per Text ein, und die App liest die Worte vor.
KNA: Sind denn alle Smartphones barrierefrei nutzbar, etwa für blinde Menschen?
Bentele: Mittlerweile gibt es viele Anbieter, die barrierefreie Smartphones herstellen. Am besten ist es natürlich immer, wenn die Barrierefreiheit vom Hersteller von Anfang an mitgedacht wird. Dann erspart man sich die Behebung der Schnittstellen, wenn die technischen Geräte nachträglich für Menschen mit etwa einer Seh- oder Hörbehinderung zugänglich gemacht wurden.
KNA: Gibt es in Deutschland Richtlinien, die Barrierefreiheit vorschreiben?
Bentele: In Deutschland haben wir leider keine Verpflichtung für die Privatwirtschaft. In den USA ist das anders. Dort besteht eine gesetzliche Verpflichtung und somit für Menschen mit Behinderung das Recht auf Barrierefreiheit. Es gibt einen US-amerikanischen Anbieter von Smartphones, der Barrierefreiheit von Anfang an als Thema nach vorne gebracht hat. Da sieht man deutlich, was Gutes dabei raus kommt, wenn es vom Anbieter selber eingeplant und programmiert wird und eben nicht nachträglich eingespielt werden muss.
KNA: Wie äußert sich das?
Bentele: Wenn man die vorinstallierte Funktion "Voice Over" aktiviert, ändert sich automatisch die Bedienung. Jede Funktion, über die das Handy verfügt, wird vorgelesen. Zudem schaltet sich das Smartphone bei der ersten Berührung nicht ein - es ertönt etwa das Wort "Telefon" und muss mit einem Doppelklick bestätigt werden, bevor sich die Funktion freischaltet. Wenn ein Buchstabe angetippt wird, wird er vorgelesen und ebenfalls mit einem Doppelklick bestätigt. Stimme und Sprechgeschwindigkeit können individuell angepasst werden.
KNA: Nicht nur das Smartphone, auch die mobilen Anwendungen, Apps, müssen anders gestaltet sein. Achten Entwickler auf die Barrierefreiheit ihres Produkts?
Bentele: Viele Apps könnten noch übersichtlicher sein. Sie arbeiten zum Beispiel mit Bildern oder Symbolen, die bestimmte Funktionen haben. Ist das Bild jedoch nicht genau beschriftet, kann das Smartphone nur "Bild" vorlesen oder eben gar nichts, wenn keine Beschriftung da ist. Es ist so gar nicht klar, was das Bild bewirkt, wenn man es anklickt. Es ist mein Wunsch, dass App-Entwickler noch stärker auf Barrierefreiheit achten.
Bei den speziell entwickelten Apps für Menschen mit Behinderung ist das hingegen gar kein Problem. Da liegt die Problematik eher darin, dass die Rahmenbedingungen nicht geregelt sind. Barcodes an Flaschen oder Verpackungen befinden sich nicht immer an der gleichen Stelle. Das macht es schwierig, die App zu nutzen, die den Inhalt anhand des Barcodes vorliest. Zudem ist auch nicht jedes Produkt in der Datenbank, aus der die Informationen abgerufen werden, registriert.
KNA: Gibt es auch technische Grenzen?
Bentele: Eine App wird mir nie sagen können: In deiner Nähe stehen ein paar Menschen, die du kennst. Vorausgesetzt, die Menschen lassen sich nicht technisch überwachen und geben die Daten an meine App weiter. Auch kann eine App nie ganz kleinteilig und genau wiedergeben, was man auf Fotos sieht.
KNA: Gilt das auch für die speziell entwickelten Apps für Menschen mit Behinderung?
Bentele: Es gibt sicher noch Nachbesserungsbedarf, aber es werden ständig Apps entwickelt, die tolle Dinge können. Eine relativ neue Sache ist, dass man sich seine Umwelt von einer App beschreiben lassen kann. Man macht einfach ein Foto und bekommt gesagt, was darauf zu sehen ist, etwa "Zwei Frauen, eine lächelt, eine guckt ernst". Dann gibt es Apps, die Farben erkennen können. Aber klar, da darf gerne noch mehr kommen. Jede Innovation wird Menschen helfen. Zum Glück ist es so, dass in diesem Markt viel Bewegung ist.
KNA: Wird die Technik irgendwann Blindenhunde oder persönliche Assistenzen ersetzen können?
Bentele: Apps sind ein gutes Hilfsmittel, können aber nie die persönliche Assistenz ersetzen. Auch wenn Apps die Farbe von Gegenständen sagen können - sie können bei Kleidung etwa nie sagen, ob die einzelnen Teile zusammenpassen. Auch kann keine App jemandem helfen, bei einem Treffen den richtigen Ansprechpartner oder den Raum zu finden. Aktuelle Experimente, wie die mit einem Pflege-Roboter, zeigen deutlich, dass die Technik nur eine Ergänzung sein kann.
Und es darf nicht vergessen werden, dass jeder Mensch ganz individuelle Bedürfnisse hat. Ein Hund und mehr noch eine persönliche Assistenz können diese natürlich ganz anders bedienen als eine vorgefertigte App. Für viele gibt diese lebendige Assistenz Sicherheit. Sie bevorzugen Lebewesen als Begleitung, die ihnen zeigen, dass da gleich eine Sitzbank kommt oder eine Ampel, die mit ihnen persönlich kommunizieren - das kann eine App einfach nicht leisten.
Das Interview führte Romina Carolin Stork.