domradio.de: Fangen wir doch mal mit der Wortgeschichte an. Was sind die etymologischen, also die wortgeschichtlichen Ursprünge der Sehnsucht?
Dr. Christine Möhrs (Institut für Deutsche Sprache in Mannheim): Dieses Wort Sehnsucht hat im Grunde zwei Bestandteile, die man sich mal genauer anschauen muss. Der eine Bestandteil ist das Wort "Sucht“. Bei diesem Wort denkt man zunächst einmal an etwas, was sprachgeschichtlich relativ weit zurückliegt, nämlich an die ursprüngliche Bedeutung "Krankheit". Krankheit hat man dann zusammen in Verbindung mit Pest, Aussatz oder Fieber gebracht und dieses Wort "Sucht" hat sich über die Jahrhunderte ein kleines bisschen gewandelt. Es kommt aber immer noch in Krankheitsbezeichnungen vor.
Die zweite Bedeutung von dem Wort Sucht, die sich dann herausgebildet hat, ist das intensive Verlangen nach etwas, laut dem Wort "Sehnen". Wenn man sich das sprachgeschichtlich anschaut, dann kommt das aus dem Mittelhochdeutschen, da heißt das Wort Sehnen so etwas wie schlaff oder sehr müde sein. Wenn man das Wort Sehnsucht wieder zusammensetzt, kommt man dann in der heutigen Bedeutung zu einer Umschreibung, die man mit einem inniglichen oder auch fast schon schmerzlichem Verlangen nach jemandem oder etwas bezeichnen könnte.
domradio.de: Das Sehnen und die Sucht - sozusagen auch diese Spannung zwischen den beiden Wörtern?
Möhrs: Auf jeden Fall. Ich habe auch in den vielen Wörterbuchquellen noch eine ganz interessante Nebenbemerkung von Johann Christoph Adelung gefunden, einem Sprachforscher, der dieses Wort "Sucht" nochmal ein bisschen zum Niederdeutschen zählt. In diesem Kontext bedeutet "Sucht" so etwas wie "seufzen". Dann stehen die beiden Wörter auch gar nicht mehr in so einem Gegensatz, sondern dann kann man es als "Seufzen vor Verlangen" oder "Seufzen vor einer heftigen Begierde" verstehen.
Allerdings muss man dazu sagen, bei dem Wort Sehnsucht handelt es sich um ein komplexes Wort und gerade in dieser Zusammensetzung steckt eine gewisse Undurchsichtigkeit, denn wir haben auch im Deutschen andere Paarungen mit Sucht: so etwas wie Eifersucht zum Beispiel, die dann plötzlich in ihren ursprünglichen Bedeutungen leicht verblassen. Damit verbindet man nicht mehr so etwas wie "krankhafte Sucht". Es gibt auch sprachgeschichtlich die Theorie, dass das Wort "Sucht" auch semantisch ein bisschen unter dem Einfluss des Wortes "Suchen" steht. Dann kommt man der Bedeutung von "Sehnsucht" noch ein bisschen näher.
domradio.de: Da schwingt auch eine gewisse Unsicherheit mit?
Möhrs: Ganz bestimmt. Wenn man sich das heute unter den sprachwissenschaftlichen Methoden anschaut, dann fallen Begriffe wie Geborgenheit, Heimat, Freiheit, Leben, Ferne oder Harmonie. Die stehen in sprachlichen Verwendungen wie zum Beispiel "Sehnsucht nach Freiheit".
domradio.de: Wenn man Gedichte aus der Romantik liest oder sich Bilder von Caspar David Friedrich sieht, da geht es oft um Sehnsucht, die fest im deutschen Kulturschatz verankert ist. Warum gerade in Deutschland?
Möhrs: Es gibt anscheinend im Deutschen zwei Dinge, die eine Begründung liefern können, warum es auch schwierig ist, solche Wörter auch in eine andere Sprache zu übertragen. Da gehört "Sehnsucht" auch dazu. Die deutsche Sprache besitzt auch im besonderen Maße die Möglichkeit, Gefühle über solche komplexen Wortformen auszudrücken. Da gehören Begriffe, wie Geborgenheit, Gemütlichkeit und auch Sehnsucht dazu.
Das Gespräch führte Christoph Paul Hartmann.