Der Benediktinerpater Anselm Grün ist gleichzeitig auch Bestsellerautor. Seine Bücher zu den großen Lebensfragen und spirituellen Themen treffen bei vielen Menschen einen Nerv. Fragen nach Sehnsucht und dem Umgang mit ihr ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Werk.
domradio.de: Sie sagen ja: Die Sehnsucht gehört zum Menschen, die Sehnsucht hält den Menschen lebendig. Warum ist das so, was macht die Sehnsucht aus?
Anselm Grün (Pater Dr. Anselm Grün OSB): Letztlich ist die Sehnsucht nur von Gott zu stillen. Augustinus (Kirchenlehrer der Spätantike, Anmerkung der Redaktion) sagt: Immer wenn ein Mensch sich leidenschaftlich nach etwas sehnt, zum Beispiel nach Liebe, Besitz, Geld, Anerkennung - dann steckt darin eine spirituelle Sehnsucht; die Sehnsucht, dass sein Leben gelingt und der tiefste Hunger irgendwo gestillt wird.
domradio.de: Wie fühlt sich Sehnsucht an?
Anselm Grün: Sehnen ist manchmal wie eine Krankheit. Sucht kommt ja vom "siech" (= krank). Ich habe das Gefühl, ich bin hier nicht zufrieden. Ich kann noch so viel essen und trinken, ich kann noch so viel Liebe erfahren - und bin nie satt. Eine Ahnung hält mich wach, weil ich spüre: Alles, was ich hier tue, kann mich nicht richtig satt machen.
domradio.de: Ein Problem für moderne Menschen ist vielleicht, dass sie ihre wahren Sehnsüchte nicht erkennen, steckenbleiben in materiellen, oberflächlichen Sehnsüchten. Wie erkenne ich wahre Sehnsucht?
Anselm Grün: Sucht ist immer verdrängte Sehnsucht. Ein Therapeut hat mich zum Beispiel mal eingeladen zu einer Tagung. Ich sollte einen Vortrag halten zu dem Thema "Sucht in Sehnsucht verwandeln", weil er überzeugt war, dass Sucht nicht alleine durch Disziplin geheilt werden kann, sondern nur, wenn sie wieder in Sehnsucht verwandelt wird.
Der Alkoholiker sehnt sich danach geborgen zu sein, sich wohl zu fühlen, Liebe zu spüren, einfach da zu sein. Er versucht es mit Trinken, aber dann führt das dazu, dass er abhängig wird. Sehnsucht heißt, dass der Mensch über die Welt hinaus geht und es aushält, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können, sondern dass in ihm noch ein tieferes Sehnen ist.
domradio.de: Was machen wir mit der Sehnsucht nach Gott? Sie haben eben schon den Heiligen Augustinus zitiert…
Anselm Grün: Die Lateiner nennen Sehnsucht "desiderium" und es kommt von "sidera" - zu deutsch: die Sterne. Wenn wir den Sternenhimmel anschauen, kennen wir ja auch die Sehnsucht nach Heimat, nach etwas Größerem. In jeder Leidenschaft kann man spüren: Da ist eine tiefere Sehnsucht nach Gott. Die kann ich nie ganz erfüllen. Aber ab und zu in der Stille, wenn ich ganz ruhig werde, spüre ich, dass das stimmt: Da ist eine Spur in mir.
Exupéry (ein französischer Schriftsteller; Anmerkung der Red.) sagt: Die Sehnsucht nach Liebe ist schon Liebe. In der Sehnsucht nach Gott ist schon Gott. Viele jammern ja und sagen: Ich spüre Gott nicht. Dann sage ich immer: Gott kannst du nicht direkt spüren, aber die Sehnsucht spürst du. Und wenn du die Sehnsucht spürst nach Glaube, nach Liebe und Gott - dann ist schon etwas, von dem, wonach du dich sehnst, in dir.
Das Gespräch führte Verena Tröster.
Sehnsucht nach Gott, Sehnsucht nach Sinn, Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Gemeinschaft: Menschen haben viele Sehnsüchte - und meist geht es da um die ganz großen Lebensthemen. Deshalb widmet domradio.de der Sehnsucht eine eigene Woche - vom 19. - 25. März 2017.