domradio.de: War es Sehnsucht nach Ferne, die Sie dazu gebracht hat " zur See" zu fahren?
Katharina Plehn-Martins (Berliner evangelische Pfarrerin i.R.): Nein, das war eher ein Zufall, dass ich zur Seefahrerin wurde. Mit Sehnsucht hatte das nichts zu tun, das hing eher mit meiner Reiselust zusammen. Die hat ihre Wurzeln schon in meiner Kindheit, als meine Mutter mit mir Jahr für Jahr auf Urlaubsreisen ging. Das war in den 1950er Jahren etwas ganz Besonderes. So zog sich die Lust am Reisen durch mein Leben hindurch. Die Lust am Reisen hat bei mir etwas mit Neugier und mit dem Wunsch nach Horizonterweiterung zu tun.
domradio.de: Sie führen als Bordseelsorgerin viele Gespräche mit den Reisenden. Enden auf so einem Traumschiff auch die Sehnsüchte?
Plehn-Martins: Meine Deutung ist: Nein. Sehnsucht entsteht aus Mangel oder aus dem Wunsch nach einem anderen Leben, sei es auch nur für eine begrenzte Zeit im Jahr. Meine Erfahrung ist, dass die Reisenden ihre Probleme, Sorgen und Sehnsüchte im Gepäck haben. Die werden sie nicht einfach los, nur weil sie in einem Traumschiff über die Meere schaukeln. Im Gegenteil: Angesichts der Weite des Meeres können unerfüllte Sehnsüchte die Menschen massiv einholen. Die Sehnsucht danach, dass eine verlorene Lebensgemeinschaft wieder lebendig werde. Oder die Sehnsucht danach, endlich einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Oder die Sehnsucht danach, dass die Einsamkeit nicht mehr sei. Und da können das Traumschiff, der Luxus, das tolle Essen und die neuen Eindrücke alleine das bestimmt nicht erfüllen.
domradio.de: Sie leben in Berlin. Wenn Sie nicht mit dem Schiff unterwegs sind, wie sehen Sehnsüchte im Alltag der Menschen in der Hauptstadt aus?
Plehn-Martins: Berlin ist eine Millionen-Metropole. Die Menschen dort sind so vielfältig: Junge, Alte, Kinder, Arme, Reiche, Juden, Christen und Muslime; Homo- und Heterosexuelle. Alle, und noch viel mehr, machen die Vielfalt der Bewohner unserer Stadt aus. Menschen mit ihren eigenen Erfahrungen und Geschichten aus allen möglichen Ländern leben inzwischen in dieser Stadt, und auch viele Geflüchtete. Die Stadt ist bunt, voll, laut, faszinierend und toll. So vielfältig wie die Menschen in Berlin sind, so vielfältig mögen auch ihre Sehnsüchte sein. Ich habe eine These: Wenn es stimmt, dass die Schwester der Sehnsucht die Kompensation ist, kann man sich überlegen, was sich die unterschiedlichen Menschen ersehnen. Ich würde sagen: Die Sehnsucht ist subjektiv, sie hat viele Gesichter, und sie bestimmt den einzelnen Menschen.
domradio.de: Wie wichtig sind überhaupt Sehnsüchte? Was passiert, wenn keine Sehnsucht mehr da ist?
Plehn-Martins: Sehnsüchte sind vitale Lebenskräfte. Die Sehnsucht hält uns in Bewegung und drängt immer nach Erfüllung. Darum sage ich, dass die Sehnsucht noch eine weitere Schwester hat, und das ist die Hoffnung. Weil die Sehnsucht Hoffnung in sich trägt, ist sie absolut wichtig, und so wird sie zur elementaren Lebenskraft. Sie kann ein Motor sein, das Leben aktiv und lebenskreativ zu gestalten. Wenn ich das so betrachte, ist Sehnsucht etwas wunderbares, und ein lebendiger Impuls. Sie kann auch schmerzhaft sein, besonders wenn man frisch verliebt ist, das kennen wir alle. Manchmal aber ist sie als Gefühl viel tiefgehender als die Erfüllung. Ich erinnere mich an eine Situation, da wartete ich sehnsüchtig auf einen geliebten Menschen. Als er dann da war, war die Sehnsucht erfüllt und die Gefühle stellten sich wieder auf ein Gleichmaß ein, die Spannung war raus, und es wurde auch etwas langweiliger. So habe ich es selbst erlebt. Wer keine Sehnsucht hat, ist vielleicht übersättigt, weil immer alles in Fülle da ist, oder ist resigniert. Und wer keine Sehnsucht mehr in sich spürt, ist in Gefahr, seelisch ein Stück zu verkümmern. Deshalb finde ich es absolut wichtig, unsere Sehnsucht und die Kraft zum anderen und zum schöneren Leben zu hegen und zu pflegen.
Das Gespräch führte Tobias Fricke.