"Ein sterbender Mann" - so lautet der Titel von Martin Walsers jüngstem und vielleicht auch letztem Roman. Es geht ums Altsein, den Verrat durch einen alten Freund, Gedanken über Selbsttötung und die Suche nach Liebe, die Sitte, Anstand und Moral vergessen lässt. In einer Rezension heißt es: "Walser zitiert zudem Kollegen wie Grass, Kafka, Kleist, Schiller und Shakespeare. Als nähme der 89-Jährige auf diese Weise Abschied vom Schreiben." Am 24. März wird der deutsche Autor 90 Jahre alt.
Unstrittig ist sein Rang als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller deutscher Sprache. "Halbzeit", 1960 erschienen, markierte wie die im Jahr zuvor veröffentlichte "Blechtrommel" von Günter Grass den ersten Höhepunkt der deutschen Nachkriegsliteratur.
Schon im Roman-Erstling "Ehen in Philippsburg" (1957) hat Walser ein Grundmotiv seines frühen Schaffens angeschlagen: den Überlebenskampf des kleinbürgerlichen Angestellten in einer Gesellschaft des ökonomischen Leistungsdrucks.
Mutter war strenggläubige Katholikin
Als Sohn einer Gastwirtsfamilie - die Mutter war strenggläubige Katholikin - promovierte er 1952 mit einer Dissertation über Franz Kafka. Beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart gehörte er zur sogenannten Genietruppe, die dem Sender ihren Stempel aufdrückte mit Hörspielen und Features auf hohem literarischem Niveau. 1955 wurde Walser mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet. Es sollten noch viele Auszeichnungen folgen, darunter auch die höchsten, die im deutschen Sprachraum zu vergeben sind: der Büchner-Preis (1981) und der Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1998.
Mit der Dankesrede bei der Entgegennahme des Friedenspreises sorgte Walser für eine emotional geführte Auseinandersetzung über den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Walser warf den Medien vor, in eine "Routine des Beschuldigens" verfallen zu sein. Auschwitz eigne sich nicht dafür, als "Moralkeule" eingesetzt zu werden. Noch heftiger waren die Reaktionen, als Walsers Kurzroman "Tod eines Kritikers" (2002) erschien. Der Großkritiker, der übrigens nur scheinbar stirbt, trägt unverkennbar die Züge von Marcel Reich-Ranicki.
Trennung vom Verlag
Querelen um das Buch führten zur Trennung vom Suhrkamp-Verlag und zu massiven Behinderungen seiner Lesungen. Aber Walser, der einst als Wahlkampfhelfer von Willy Brandt und zwischenzeitlicher DKP-Sympathisant ein rotes Tuch für die bürgerliche Rechte war, hatte schon in den 1980er-Jahren den Verdacht erregt, die Seiten gewechselt zu haben und ein Deutschnationaler geworden zu sein. Heute mutet sein damaliges Eintreten für die deutsche Einheit schon fast prophetisch an.
Solche Schubladen sind aber zu klein für einen Autor, der wie kein anderer über Jahrzehnte hinweg deutsche Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten registriert und thematisiert hat, im Großen wie im Kleinen. Aber auch abseits politisch motivierter Aufgeregtheiten ist es immer noch und immer wieder ein widerborstiges Vergnügen, Walser zu lesen, wenn auch seine nimmermüde Produktivität manchmal zulasten der Qualität geht.
Anlässlich seiner 2010 erschienen Novelle "Mein Jenseits" stellten sich manche Rezensenten die Frage, ob Martin Walser auf seine alten Tage fromm geworden sei. Als Ich-Erzähler lässt der Autor dort den Leiter einer psychiatrischen Klinik am Bodensee auftreten, der den Reliquienkult, dem er nachforscht, verteidigt. "Wir glauben mehr als wir wissen" lautet sein Credo. August Feinlein und seine psychiatrische Klinik treten noch einmal in dem Roman "Muttersohn"
(2011) in Erscheinung, in dem Walser nach Ansicht einer Kritikerin "vom Glauben als der Sehnsucht nach absolutem Angenommensein auf Erden" erzählt.
Fragen des Glaubens
Alter, Todesnähe, aber auch Fragen des Glaubens sind bevorzugte Themen der jüngsten Bücher des nimmermüden Schriftstellers, der sich im Roman "Ein liebender Mann" (2008) in den alten Goethe einfühlt. Den ebenfalls betagten Helden seines Romans "Angstblüte" (2006) lässt er sinnieren: "Er hatte gehofft, im Alter nehme eine Art Sterbebereitschaft zu. (...) Man sei am Leben nicht mehr so interessiert. Jetzt erlebt er, dass das nicht stimmt. Er ist dem Tod sicher so nah wie nie zuvor, aber vom Leben kein bisschen weiter weg als vor dreißig Jahren. Leben ist immer noch etwas, von dem man nicht genug kriegen kann."