Für Spanienurlauber ist die "Semana Santa", die Karwoche vor Ostern, ein unvergessliches Erlebnis. In vielen Städten vor allem Andalusiens ziehen Prozessionen mit lebensgroßen Figuren durch die Straßen. Sie sollen Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi anschaulich machen. Weit weniger bekannt ist eine ähnliche Tradition im Herzen Deutschlands.
Im thüringischen Heiligenstadt machen sich alljährlich am Palmsonntag, dem Beginn der Karwoche, Tausende auf einen solchen Weg. Auf Traggerüsten oder Stangen werden sechs Skulpturen des leidenden und auferstandenen Jesus durch die Metropole des katholisch geprägten Eichsfelds geführt. Festlich in schwarz gekleidete Männer mit weißen Handschuhen und Zylinder tragen sie, begleitet von Blaskapellen und dem Gesang religiöser Lieder.
Bei vsl. strahlender Sonne findet am Sonntag (9.4.) wieder die Heiligenstädter Palmsonntagsprozession statthttps://t.co/hBLDc2JUAj @mdr_th pic.twitter.com/99EiQhlUZS
— Immat Kulturerbe (@unesco_de_ike) 7. April 2017
Glauben mit allen Sinnen verbreiten
Die Wurzeln dieser Tradition gehen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Um 1570 kamen Mitglieder des Jesuitenordens ins Eichsfeld, um die Region nach Luthers Reformation für die katholische Kirche zurückzugewinnen. Sie belebten Wallfahrten und Prozessionen neu, um den Glauben nicht nur über den Verstand, sondern mit "allen Sinnen" zu verbreiten. Dazu gehörte auch die große Prozession, die heute stets am Palmsonntag stattfindet.
Das war nicht immer so. Anfangs wurde sie wahrscheinlich am Fronleichnamstag abgehalten, später am Karfreitag. Auch änderte sich das Erscheinungsbild. Zunächst zogen die Jesuiten mit Speeren, Geißeln, Dornenkronen, Nägeln und Hämmern durch die Stadt, den "Leidenswerkzeugen", mit denen Christus gequält wurde. Als Akt der Buße geißelten sich manche Teilnehmer öffentlich oder schleppten - wie Jesus - ein schweres Kreuz.
Verlegung der Prozession
Im Jahr 1734 wurde die Prozession vom Karfreitag auf den Palmsonntag verlegt. Seitdem ziehen die Figuren, die teilweise mit Stoffgewändern bekleidet sind, am letzten Sonntag vor Ostern feierlich durch die Kreisstadt mit 16.000 Einwohnern. Wer diesen Dienst aus familiärer Tradition übernimmt, hat zentnerschwer daran zu tragen: Die Pieta, eine Darstellung von Maria mit dem toten Jesus, wurde aus Kunststein wahrscheinlich um 1900 hergestellt. Sie ist damit die jüngste Skulptur. Die anderen fünf bestehen aus Linden- oder Pappelholz und sind vermutlich viel älter. Vermutlich stammen sie aus dem frühen 17. Jahrhundert.
Immaterielles Kulturerbe
Auch über den Ort ihrer Entstehung gehen die Meinungen auseinander. Sie könnten aus Heiligenstadt selbst stammen, da es vor 400 Jahren dort mehrere Schnitzer- und Bildhauerfamilien gab. Eine andere Theorie führt nach Spanien, zur weit berühmteren Variante solcher Prozessionstraditionen. Vor allem beim Antlitz weisen die Heiligenstädter Christusfiguren eine verblüffende Ähnlichkeit mit denen auf der iberischen Halbinsel auf, die dort etwa zur selben Zeit entstanden. Die Verbindung könnten die Jesuiten sein, die hier wie dort eine wichtige Rolle spielten.
Auch Ungewissheiten wie diese tragen zur anhaltenden Anziehungskraft der Heiligenstädter Palmsonntagsprozession bei. Allen Anfeindungen der damaligen Machthaber zum Trotz riss die Tradition auch in der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR nicht ab. Seit vergangenem Jahr ist sie auch international geadelt: Die Unesco nahm sie in ihr immaterielles Kulturerbe auf.
Gregor Mühlhaus