KNA: Herr Cremer, bis zuletzt haben die beteiligten Ministerien um einzelne Formulierungen und Bewertungen beim Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gestritten. Warum?
Prof. Dr. Georg Cremer (Generalsekretär des Deutschen Caritasverband e. V.): Gewisse Differenzen während der Ressortabstimmung halte ich für normal. Insgesamt sollten wir uns weniger über das Verfahren aufregen, als den Bericht sorgfältig lesen und ihn diskutieren. Er ist eine sehr umfangreiche und nützliche Sammlung armutspolitischer Analysen. Zugleich darf man jetzt keine Heilsversprechungen wecken.
Erfolgreiche Politik der Armutsprävention ist mühsame, zähe Reformarbeit auf vielen Feldern und in kleinen Schritten.
KNA: Wo also anpacken, um Armut in Deutschland effektiver zu begegnen?
Cremer: Wichtig ist, in der Sozialpolitik noch mehr auf Prävention zu setzen. Wir müssen möglichst alle Menschen dabei unterstützen, ihre Potenziale auch entfalten zu können. Vor allem braucht es ein Bildungssystem, das den zu engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg merklich abbaut. Menschen dürfen sich nicht dauerhaft abgehängt fühlen. Das ist politisch sehr gefährlich.
KNA: Welche konkreten Veränderungen schlägt die Caritas vor?
Cremer: Handlungsbedarf gibt es einerseits bei den materiellen Hilfen. Die Caritas spricht sich für eine Erhöhung des Regelsatzes bei Alleinstehenden um etwa 80 Euro aus. Dies würde den auf Grundsicherung angewiesenen Menschen ein wenig mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung ermöglichen. Und auch bei der Grundsicherung im Alter besteht eine zentrale Gerechtigkeitslücke: Wer sein Leben lang als Niedriglöhner gearbeitet hat, ist im Alter so gestellt, als hätte er nie in die Rentenkassen eingezahlt. Denn alle erarbeiteten Rentenansprüche werden bei der Berechnung der Grundsicherung in Abzug gebracht. Das müssen wir ändern.
KNA: Genaue Daten zur Verteilung des Reichtums, des Vermögens in Deutschlands gibt es erstaunlicherweise nicht. Dennoch hält der Armutsbericht fest, dass die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens besitzen. Öffnet sich also die Schere zwischen Reich und Arm?
Cremer: Richtig ist: Wir haben eine sehr ungleiche Vermögensverteilung. Und wir haben im Durchschnitt geringere Vermögen als eine Reihe anderer westeuropäischer Länder, was vor allem daran liegt, dass viele Deutsche zur Miete wohnen und kein Wohneigentum besitzen. Auf der Basis der vorliegenden Daten zur Vermögensverteilung in Deutschland können wir aber nicht wirklich seriös sagen, ob sich die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung weiter zuspitzt. Dennoch sollten wir handeln: beispielsweise mit einer Erbschaftssteuer, die Erbschaften fairer und konsequenter besteuert als heute. Bezüglich der damit zu erwartenden Mehreinnahmen sollte man allerdings realistisch sein. Wir kommen damit nicht in andere Dimensionen staatlicher Handlungsfähigkeit.
KNA: Wie berechtigt ist Abstiegsangst?
Cremer: Diese Abstiegsangst in der Mitte ist eindeutig vorhanden, insbesondere äußern Personen Angst bezüglich des Status und der Lebensbedingungen, die ihre Kinder haben werden. Viele haben das Gefühl, sie sind die letzte Generation, denen es besser geht als den Eltern. Ich halte das aber für einen übertriebenen Zukunftspessimismus.
KNA: Was verleitet Sie zu dieser Annahme?
Cremer: Wenn es uns gelingt, ein produktives Land zu bleiben, wenn wir in Bildung und Innovation investieren und den sozialen Frieden erhalten, dann können wir den Wohlstand in Deutschland sichern, es wird dann sogar moderate Wachstumsgewinne geben.
KNA: Und das Szenario vom Zerbrechen der Mittelschicht?
Cremer: Die Einkommensstatistiken geben das nicht her. Das Schichtengefüge in Deutschland ist relativ stabil.
KNA: Bedeuten Kinder heute ein Armutsrisiko?
Cremer: Familien mit drei und vier Kindern haben ein deutlich höheres Armutsrisiko als Familien mit einem oder zwei Kinder. Das sollte eine Anfrage sein an unseren Familienlastenausgleich. Aber das Pauschalurteil, wonach Kinder ein Armutsrisiko wären, ist falsch. Es ist doch schon paradox, wenn sich in einer so reichen Gesellschaft wie der unseren das Gefühl breitmacht, man könne sich Kinder nicht mehr leisten.
KNA: Werden wir ihn uns den Sozialstaat auch künftig noch leisten, wenn die Wirtschaft mal nicht mehr so florieren sollte wie aktuell?
Cremer: Trotz günstiger wirtschaftlicher Entwicklung führen manche einen Untergangsdiskurs. Man muss sich schon fragen, wie die Debatten laufen würden, wenn wir mal wieder stärkere rezessive Tendenzen hätten. Natürlich gibt es Risiken für die gesamtwirtschaftliche Lage. Etwa wenn der nationale Protektionismus so um sich greifen würde, dass Deutschland als Exportnation schwer getroffen würde. Das ist denkbar, aber doch nicht zwangsläufig. Viel hängt von der weiteren politischen Gestaltung ab.
KNA: Wie stabil ist unsere Demokratie aber - etwa im Blick auf den wachsenden Rechtspopulismus?
Cremer: Wirkliche Sorge macht mir, dass die Wahlbeteiligung insbesondere bei Menschen mit geringen Einkommen und geringem Bildungszugang so niedrig ist. Das kann sich zu einem Legitimationsproblem der Demokratie auswachsen. Wenn bestimmte soziale Gruppen sich immer stärker vom demokratischen Prozess zurückziehen, muss uns das umtreiben. Und in Teilen hängen die Erfolge der AfD hiermit zusammen. Denn die Gruppe der Nichtwähler ist ein großes Rekrutierungspotenzial für Populisten.
Das Gespräch führte Volker Hasenauer.