Wiedervereinigung und europäische Einheit waren seine Lebensprojekte: Altkanzler Helmut Kohl ist im Alter von 87 Jahren gestorben. Jahrzehnte war er die prägende Person der CDU. Zuletzt überschattete seine private Tragödie politische Fragen. Wie die "Bild"-Zeitung unter Berufung auf Kohls Witwe Maike Kohl-Richter berichtete, starb der Altkanzler am Freitagmorgen in seinem Haus in Ludwigshafen.
An die Öffentlichkeit wandte sich Helmut Kohl zwar nur noch selten, doch für Schlagzeilen sorgte er immer noch. Zuletzt stritt er mit seinem Biografen Heribert Schwan über die Verwertung von Zitaten aus Gesprächen. Außerdem stand Kohls Privatleben immer wieder im Fokus, vor allem wurde über den Einfluss seiner zweiten Ehefrau Maike Richter diskutiert.
Sein Vater habe zu weiten Teilen seines alten Umfeldes einschließlich seiner Familie den Kontakt abgebrochen, berichtete sein Sohn Walter Kohl. Seinen 85. Geburtstag im April feierte der Altkanzler im engsten Kreis. Seit einem Sturz vor sieben Jahren saß er im Rollstuhl und konnte nur noch mühsam sprechen.
Meisterstück Wiedervereinigung
Politisch hatte er Jahrzehnte lang an den ganz großen Rädern gedreht. Sein Meisterstück, für das ihm auch politische Widersacher Respekt zollen, ist die deutsche Wiedervereinigung, auch wenn ihm das leichtfertige Versprechen "blühender Landschaften" lange vorgehalten wird. "89 - das war eine Glanzleistung", bescheinigt Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) dem rund zehn Jahre jüngeren Amtsnachfolger. "Er hat seine Sache erstklassig gemacht. Großes Lob von meiner Seite", sagte Schmidt 2010.
Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionschef und Christdemokrat aus Luxemburg, nennt den Altkanzler einen deutschen und europäischen Patrioten. Und Heiner Geißler, der als Generalsekretär den Aufstand gegen den CDU-Chef probte, würdigt Kohl europäische Verdienste: "Dass Europa vorangekommen ist, das hat Europa, aber auch Deutschland zu einem ganz großen Teil ihm zu verdanken."
Geboren und aufgewachsen ist Kohl im pfälzischen Ludwigshafen, wo er die Irrungen der NS-Zeit und die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs erlebt. Trotz aller hohen Ämter ist er dort bis heute fest verwurzelt. Von besonderem Einfluss ist in den Kinder- und Jugendjahren neben dem Elternhaus das katholische Pfarrhaus in Limburgerhof. In der "Sonntagsschule" des Dekans Johannes Finck, so berichtet Kohl in seinen Erinnerungen, erhielt er sein politisches Rüstzeug.
Umbau der CDU zur modernen Partei
Rasch nach 1945 schließt er sich der CDU an. Kohl studiert Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Frankfurt und Heidelberg und ist anschließend kurze Zeit in der Industrie tätig. Mit 29 Jahren wird er in den Mainzer Landtag gewählt und macht fortan der alten Garde der CDU das Leben schwer. Von Anfang an ist die Partei die entscheidende Ressource seiner Macht. Kohl pflegt unermüdlich seine Kontakte bis hin zu den Kreisvorsitzenden, berichten Vertraute. Das Telefon ist sein Machtinstrument, immer wieder lässt er von sich hören. "Kohl lebte in Symbiose mit seiner Partei, wie er sich später mit der Mehrheit der Deutschen symbiotisch verbunden fühlte", schreibt der Göttinger Parteienforscher Franz Walter.
Mit 39 Jahren übernimmt Kohl 1969 das Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten von Peter Altmeier. Der "Modernisierer" schart eine junge Mannschaft um sich, zu der exzellente Köpfe wie Heiner Geißler, Bernhard Vogel und Roman Herzog gehören. Im Juni 1973 wählt ihn die CDU zum Bundesvorsitzenden. Der CDU-Chef fördert politische Talente wie Richard von Weizsäcker und Kurt Biedenkopf und treibt den Umbau der CDU vom Honoratiorenverein zur modernen Partei voran.
1976 wechselt Kohl auf die Bundesebene und wird Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Im Oktober 1982 wird er durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Kanzler Helmut Schmidt Bundeskanzler. Mit seiner Kanzlerschaft verbunden sind neben manchen Krisen auch wichtige Etappen der europäischen Einigung und die Wiedervereinigung. Die deutsch-französische Achse, verkörpert in so verschiedenen Charakteren wie Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, vermochte manches Stottern in der EU zu überwinden. "Ohne den Pfälzer hätte es den Euro nicht gegeben", bescheinigte ihm der Saarländer und ehemalige SPD-Chef Oskar Lafontaine.
Als Innenpolitiker und Parteimann
Wenn auch die Meriten des Staatsmanns in der Europa- und Deutschlandpolitik unstrittig sind, so ist der Innenpolitiker und Parteimann Kohl umstritten. Regierungschef ist er 16 Jahre, und mehr als 25 Jahre steht er an der Spitze der CDU. Bei seiner ersten Wahl zum Bundeskanzler 1982 wird er als Provinzpolitiker verspottet. Als Aussitzen wird seine Regierungsmethode kritisiert, manche Medien verachtet er und mit den Intellektuellen fremdelt er. Doch Kohl - robust und zäh - regiert länger als jeder seiner Vorgänger.
Kohls Wahlniederlage 1998 führt zu einem konfessionellen Wechsel an der CDU-Spitze. Nachfolger des "schwarzen Riesen" und katholischen Parteipatriarchen, der im Speyerer Dom seine "Hauskirche" sieht und den Mainzer Bischof zu seinen Vertrauten zählt, sind Protestanten - Wolfgang Schäuble und Angela Merkel, beide der Talentschmiede der Kohl-Ära entstammend.
Es folgen "Horrorjahre", wie der Kohl-Biograf und Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz die Vorgänge nach dem Ende der Kanzlerschaft bezeichnet. Weil er in der Parteispendenaffäre mit Hinweis auf sein Ehrenwort die Namen von Millionen-Spendern nicht preisgeben wollte, musste Kohl den Ehrenvorsitz der CDU räumen. Auf das politische Drama folgt die private Tragödie: Kohls an einer unheilbaren Krankheit leidende Ehefrau Hannelore nimmt sich 2001 das Leben. Um die Bewertung von Kohls politischer Leistung ging es in der öffentlichen Debatte kaum mehr.
Waldspaziergänge mit Kardinal Lehmann
Seine Herkunft aus einer katholischen Familie verleugnete Kohl nie, und er hielt auch als Kanzler den Draht zu Bischöfen und Kardinälen. Gegenstand vieler Spekulationen waren seine Waldspaziergänge mit dem Mainzer Bischof und späteren Kardinal Karl Lehmann. Das gegenseitige Interesse war so stark, dass Joseph Ratzinger, nachdem er Papst war und Deutschland einen offiziellen Besuch abstattete, in Freiburg Kohl in Privataudienz traf.
Doch trotz aller persönlichen Überzeugung - sein Verhältnis zu den Kirchen war nicht nur selbstlos. Er wusste, welche Klientel ihn ins Kanzleramt gewählt hatte. In seinem Regierungshandeln vermied er es indes, "seine" Kirche zu bevorzugen. Innerkirchlich war Kohl eher fortschrittlich. Der regelmäßige Kirchgänger war, nicht zuletzt durch seine Ehe mit der Protestantin Hannelore Kohl, ein überzeugter Verfechter der Ökumene. Wenn ihm was nicht passte, bezog er auch innerkatholisch Position. Auch bei der katholischen Kirche wusste Kohl, was für sie gut war.
Glaubhaftes Engagement
Doch Kohls Engagement für Religiöses war glaubhaft. Er setzte sich, öffentlich fast unbeachtet, für die Berliner Guardini-Professur für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung ein, trug mit seinen Empfängen im Kanzleramt dazu bei, dass die Sternsingeraktion ein großes Hilfswerk wurde, und engagierte sich stark für den Neubau der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.
Kohls liebstes Ehrenamt war aber das des Chefs der "Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer". Das hat höchst private Gründe: In den Kriegsjahren fand Helmut Kohl in dem romanischen Gottehaus Schutz vor Fliegerangriffen. Später, als Kanzler, führte der Pfälzer Jacques Chirac, Margaret Thatcher, Michail Gorbatschow, George Bush, Vaclav Havel, Boris Jelzin, John Major, König Juan Carlos und viele andere durch die Kirche.
Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 2014 und kurze Zeit nach einem wochenlangen Klinikaufenthalt besuchte er gemeinsam mit seiner Frau Maike Kohl-Richter die Kathdrale. Den Besuch der Mitternachtsmette wollte er sich wegen des angeschlagenen Gesundheitszustandes nicht zumuten. Politisch war der Speyerer Dom für Kohl ein Symbol für die Einheit Europas.