domradio.de: Sie haben einen offenen Brief an Papst Franziskus geschrieben, den mehrere Bischöfe, Theologen und bekannte Katholiken aus dem öffentlichen Leben unterzeichnet haben. Wie kam es zu diesem Brief an Papst Franziskus?
Prof. Paul M. Zulehner (Pastoraltheologe aus Wien und Mitbegründer der Initiative "Pro Pope Francis"): Es gab doch beträchtliche Kritik am Papst durch den Brief von Kardinälen an ihn und zuletzt den Vorwurf, dass er doch ein häretischer (von der offiziellen Kirchenlehre abweichend, Anm. d. Red.) Papst sei. Das ist theologisch wie praktisch nicht akzeptabel. Ich denke, man muss da eine Gegenposition sichtbar machen und die Verhältnisse wieder ins Lot bringen, um zu zeigen, dass eine sehr große Zahl gläubiger Menschen und engagierter, herausragender Persönlichkeiten des kirchlichen und öffentlichen Lebens diesen Papst wirklich willkommen heißt und sehr unterstützt.
domradio.de: Ist das indirekt auch eine Antwort auf das Schreiben der sogenannten "62"? Vor Kurzem gab es ein Schreiben von Kritikern, die dem Papst Häresie vorgeworfen haben.
Zulehner: Wir glauben, dass die Auseinandersetzung mit diesem Brief auf einer anderen Ebene, in den theologischen Stuben passieren kann. Man kann sicherlich das ein oder andere diskutieren. Aber sowohl der Wiener Kardinal Schönborn wie auch Papst Franziskus haben bei der Veröffentlichung des päpstlichen Lehrschreibens "Amoris laetitia" gesagt, dass es wirklich praktisch theologisch und systematisch hieb- und stichfest ist und dass es dogmatisch betrachtet überhaupt nichts Neues ist.
Der Papst wünscht, dass das Erbarmen, das auch identisch ist mit der Gerechtigkeit Gottes in der jüdischen Thora, der oberste Maßstab für die Praxis der Kirche ist. Dann kann es nicht sein, dass Menschen letztlich in einer ausweglosen Situation am kirchlichen Leben nicht mehr teilnehmen können, weil das nicht Gottes Art ist, so mit Menschen, die aus tragischen Gründen schuldig geworden sind und wieder ins Evangelium zurück wollen, umzugehen.
Es ist unzulässig, zu sagen - wie ein Kardinal Pell das einmal in einem Vorwort eines Buches formuliert hat -, dass es sein mag, dass Gott ihnen vergibt, aber die Kirche könne ihnen nicht vergeben. Das ist theologisch gesehen die Selbstabschaffung der Kirche, wenn sie nicht erfahrbar macht, was Gott am Menschen tut.
domradio.de: Die katholische Kirche hat ihre Grundsätze. Nimmt man das Beispiel der wiederverheirateten Geschiedenen. Die Kritiker des Papstes sagen, da werde Tür und Tor für Interpretationen geöffnet und die katholische Sakramentallehre der Einmaligkeit der Ehe grundsätzlich infrage gestellt. Das könne man nicht so einfach machen, sagen die Kritiker.
Zulehner: Das ist aber ein sehr fundamentalistisches Verständnis von der sogenannten Unauflöslichkeit der Ehe, weil ja schon die frühe Kirche im Grunde gesagt hat, dass es bestimmte Situationen gibt, wo jemand den Eheverbund verlassen kann. Und es gibt vor allem die seit dem 3./4. Jahrhundert währende ostkirchliche Praxis, die wirklich christlich ist und der man keine Häresie vorgeworfen hat oder vorwerfen will.
Das Konzil von Trient hat eausdrücklich so formuliert, dass die ostkirchliche Praxis nicht verurteilt wird. So können wir mit gutem Gewissen sagen, dass es da offenbar unterschiedliche Ausformungen der ursprünglichen Kraft des Evangeliums gibt. Die katholische Kirche ist jetzt in die Schule der Ostkirche gegangen und lernt bei ihr, das Evangelium wieder besser zu verstehen.
domradio.de: In dem Brief unterstützen sie die Pastoralkultur des amtierenden Papstes und loben diese sogar. Für welche Pastoralkultur steht denn der Papst?
Zulehner: Es sagen alle großen profanen Organisationsentwickler, dass das Verhältnis zwischen einer Organisation und den Menschen über die Kultur, also den Umgang, die Inhalte, die Akzeptanz, über das, was die Menschen von der Organisation gewinnen, bestimmt wird. Das scheint mir mindestens genauso wichtig zu sein wie die Strukturveränderung, also die Zentralisierung der Kirche, die Streuung des Lehramtes in die gesamte Weltkirche hinein.
Wenn man - ein bisschen plakativ formuliert - schaut, wie sich die Akzente verschieben, dann geht das von der Sünde zur Wunde, vom Gesetz zum Gesicht, vom Moralisieren zum Heilen und vom Ideologen zum Hirten. Das sind doch deutliche Akzentsetzungen, die nicht die bisherige Praxis der Kirche gleichsam als unjesualisch darstellen.
Was Franziskus macht, ist, sich immer tiefer in diese ursprüngliche Kraft des Umgangs Jesu mit den Menschen einzugraben. Vor allem mit denen am Rand der Gesellschaft. Das, glaube ich, ist der springende Punkt. Der Papst ist nicht oberflächlich, sondern - wenn man seine Texte querliest - merkt man, dass es das Bild von Gott ist, von dem ausgehend er sagt, man müsse wie der Vater des Erbarmens werden und der Herr diese Pastoral des Erbarmens als Kirche machen, sonst verrate man unseren Gott.
domradio.de: Es ist ein öffentlicher Brief, den Sie an Papst Franziskus geschrieben haben. Hat der Papst denn so viele Gegner, dass er diese Unterstützung nötig hat?
Zulehner: Mario Politi (Journalist und Vatikanexperte, Anm. d. Red.) sagt, Franziskus habe viel zu wenig Unterstützung. Er hat sie nicht nur zu wenig im Vatikan, sondern er hat auch in der gesamten Weltkirche zu wenig. Die osteuropäischen Bischöfe schweigen. Die westeuropäischen Bischöfe schweigen auch.
Ich bin sehr gespannt, wie wir deutsche Bischöfe gewinnen können. Wir sind im Gespräch mit dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Da wird es am Mittwoch eine Klärung geben, ob und wie sich deutsche Bischöfe anschließen können. Ich möchte auch gerne Kardinal Woelki gewinnen. Das gestehe ich gerne auch öffentlich ein. Denn er ist für mich einer der bewundernswerten Kardinäle, der in der Spur des Papstes völlig klar und unaufgeregt handelt.
Ich denke, wir machen auch ein bisschen Bewusstseinsbildung in der Kirche, dass man jetzt unter diesem Papst nicht im Lehnstuhl sitzenbleiben kann, sondern dass es ein kirchenhistorisches, offenes Fenster gibt, das weltkirchlich genützt werden soll.
Das Interview führte Johannes Schröer.