"Die Mädchen in meiner Klasse lachen immer nur", versucht Jonny*, Rosanna zu ärgern. Er grinst und packt sich eine gehörige Portion Nudeln mit Speck auf den Teller. Rosanna lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und isst geduldig weiter. Beide besuchen die 4 b der örtlichen Grundschule. Jonny hat in der letzten Reihe seinen Platz, bei den Jungs, erklärt er, Rosanna in der Mitte. Zuhause allerdings essen sie gemeinsam zu Mittag.
Rosanna, Julia, Jonny, Timo, Andreas, Paul, Karla und Maria bewohnen "Haus 1" des Caritas Kinder- und Jugenddorfes in Markkleeberg südlich von Leipzig. Die 7- bis 13-jährigen Jungen und Mädchen bilden die sogenannte "Familiennahe Wohngruppe". Mindestens zwei Jahre lebt jedes Kind hier. Manche bleiben sogar bis sie erwachsen sind. Das Kinder- und Jugenddorf besteht aus insgesamt vier Häusern. 27 Jungen und Mädchen zwischen fünf und 18 Jahren haben hier ihr Zuhause.
Kontakt zu den Eltern
Nach dem Essen ziehen sich die Kinder zur Mittagsruhe zurück. Sie haben auf ihrem Zimmer Zeit für sich. Paul schläft. Timo spielt mit seinem Playmobil-Krankenhaus. Rosanna verkriecht sich unter ihre Bettdecke und liest "Pferdegeschichten". Sie findet das Kinderdorf okay. Allerdings wäre sie lieber bei ihren Eltern, gibt sie zu. "Meine Mama kann nicht richtig laufen und muss oft ins Krankenhaus. Mein Papa arbeitet immer bis tief in die Nacht", erklärt sie, warum sie mit ihrer Schwester Julia im Kinderdorf lebt. Beide Mädchen fahren jedes zweite Wochenende nach Hause.
Jonny traf sich am Sonntag für sieben Stunden mit seinem Vater. Einmal im Monat ist das so verabredet. "Er hat mich hier abgeholt", ist der Elfjährige stolz. "Bei ihm haben wir dann zwei Filme geguckt." Nachdenklich fügt er an: "Wenn ich meinen Papa nicht sehe, bin ich traurig." Timo kennt hingegen seinen Vater nicht mehr. Seine Mutter lebt mit einem anderen Mann zusammen. Ihm fällt es schwer, zu verstehen, warum gerade er im Kinderdorf leben muss und nicht einer seiner drei Brüder. Andreas kam vor zwei Monaten ins Kinderdorf. Auf die Frage, warum er hier ist, meint der Neunjährige: "Weil meine Eltern sich gestritten haben."
"Wenn Kinder von ihren Eltern getrennt leben müssen, ist das immer eine Tragödie! Was ein Kind da durchmacht, das können wir uns nur ganz schwer vorstellen", betont Kinderdorfleiterin Gabriele Fleck-Hartmuth. "Kinder brauchen den Kontakt zu ihren Eltern, auch wenn die Beziehungen zu den Eltern belastet sind." Die Sozialpädagogin sieht in der Zusammenarbeit mit den Eltern eine wichtige Aufgabe des Kinderdorfes. Mit Hilfe von Psychologen und Pädagogen soll der Faden nicht abreißen, auch wenn Kinder zu Hause Gewalt erfahren haben, vernachlässigt wurden oder Missbrauch ausgesetzt waren.
Fröhliche Gesichter oft nur vordergründig
"Alle Kinder, die zu uns kommen, haben eine Situation im häuslichen Umfeld erleben müssen, die für sie sehr schwer war", erklärt Fleck-Hartmuth. Sie spricht von Eltern, die aufgrund psychischer Erkrankungen oder körperlicher Einschränkungen nicht angemessen für ihre Kinder sorgen können, von Eltern, die aufgrund von Alkohol- und Drogensucht den Blick für ihre Kinder verlieren, von Eltern, die ihre Kinder zu Zeugen und zu Opfern von Gewalt machen.
"Alle Kinder im Kinder- und Jugenddorf bringen psychische Verletzungen mit", eröffnet die Leiterin der Einrichtung einen Blick hinter die oftmals nur vordergründig fröhlichen Gesichter der Jungen und Mädchen. Sie leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen, unter impulsiven Wut- und Gefühlsausbrüchen, zeigen Sprachdefizite, haben Konzentrationsschwächen und Schwierigkeiten, sich alleine zu beschäftigen. Symptome wie Aufmerksamkeitsstörungen oder Einnässen sind keine Seltenheit.
Begleitung durch Leben und Krise
"Die Kinder sollen wissen, dass wir für sie da sind und mit ihnen durch ihre Krise hindurchgehen." Ein festes Team von Erziehern, Sozialpädagogen und einer Psychologin begleiten die Kinder durchs Leben. Sie sorgen sich um eine geeignete Schule, um Ergotherapie, Logotherapie, psychologische Betreuung. "Die Kinder und Jugendlichen brauchen eine feste Tagesstruktur und verlässliche Beziehungen", nennt Fleck-Hartmuth die haltgebenden Eckwerte der Einrichtung. "Wir machen den Kindern Beziehungsangebote und durchleben mit ihnen einen klar durchstrukturierten Tag."
Ab halb drei am Nachmittag sitzen die Kinder über ihren Hausaufgaben. Am großen Tisch im Wohnzimmer übt Jonny mit einem Erzieher Mathe: "Was ist ein Liter?" lautet die Frage. Daneben schneidet Julia ein Bühnenbild für ihr Papiertheater aus, das sie in der Schule gebastelt hat. Andreas muss noch etwas ausmalen. Eine Erzieherin kontrolliert währenddessen das Hausaufgabenheft von Rosanna. Sie ist bereits fertig und freut sich auf die Freizeit. Für eine halbe Stunde darf die 10-Jährige ins Internet. Für sie heißt das, Musik hören und Comedy-Clips schauen.
Religiöse Haltung und Angebote
Jonny fuhr letzten Sommer mit zur Religiösen Kinderwoche der Pfarrei St. Peter und Paul. Getauft ist er nicht, wie fast alle im Kinderdorf. Markkleeberg liegt in der Diaspora. Mehr als drei Viertel der Gesamtbevölkerung gehören in Sachsen weder einer christlichen Kirche noch einer anderen Religion an. Jonny interessiert sich dennoch für Religion.
"Wir machen den Kindern religiöse Angebote", betont Kinderdorfleiterin Fleck-Hartmuth. "Wir feiern die katholischen Feste im Jahreskreis, beten zum Essen und besuchen auch mal den Sonntagsgottesdienst." Wichtiger ist ihr jedoch die innere Haltung der Kinderdorfmitarbeitenden. "Durch unsere Haltung wird die religiöse Einstellung unserer Einrichtung deutlich, welche Wertschätzung man einem Kind entgegenbringt, mit welcher Geduld dem Kind vermittelt wird: 'Du bist okay, so wie du bist.'"
*Namen der Kinder geändert