domradio.de: Eine Fußball WM ohne Italien - daran kann sich kaum einer mehr erinnern. Seit 1958 hat es das nicht gegeben. Italien ist ein Fußballland. Was bedeutet das?
Dr. Jens-Martin Kruse (Pfarrer der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Rom): Es ist ein ganz bitterer Abend gestern gewesen. Große Niedergeschlagenheit in den Bars und überall. Die Menschen verstehen gar nicht, was da passiert ist. Sie sind traurig und wütend. Eine riesige Depression herrscht in diesem Land.
domradio.de. Und wie geht es Ihnen als Wahl-Römer. Sind sie traurig, dass Italien nicht dabei ist?
Kruse: Sehr. Ich glaube, auch alle anderen Nationen können sich eine WM ohne Italien nicht vorstellen. Die waren ja immer für interessante Begegnungen gut, es gab immer Emotionen und Spannung. Ich weiß gar nicht, was wir im nächsten Jahr tun sollen.
domradio.de: Wenn wir das mal analysieren: Was ist da schiefgelaufen? Schweden hat ja keinen schönen Fußball gezeigt. Woran lag es?
Kruse: Die Italiener hatten in der Tat eine große Überlegenheit. Aber sie konnten ihre Chancen nicht verwerten. Sie waren letztendlich auch nicht zwingend in ihren Aktionen. Das ist, glaube ich, das Problem des italienischen Fußballs. Man hat sich über viele Jahre im Glanz vergangener Zeiten gesonnt und vermutlich ein Stück weit versäumt, in der Nachwuchsförderung junge talentierte Spieler heranzuführen. Man ist sozusagen mit einer vom Altersdurchschnitt relativ alten Mannschaft angetreten. Große Spieler, die schon viele Turniere gespielt haben. Aber es fehlte die Spritzigkeit und auch spielerisch und von der Taktik her war die Mannschaft nicht so aufgestellt, dass man noch eine Chance gehabt hätte. Das hört man viel in den Gesprächen mit Italienern und Freunden. Da ist ein hohes Maß an Selbstkritik.
domradio.de: Und wie wird Italien denn im kommenden Jahr die WM erleben? Wird die in Italien ignoriert werden - oder fiebern die Italiener dann mit anderen Mannschaften mit?
Kruse: Ich glaube, dass die WM in Italien kaum vorkommen wird. Die Identifikation der Italiener mit ihrer Mannschaft ist dermaßen groß, dass ein Turnier, an dem Italien selber nicht teilnimmt, dann auch kaum noch von Interesse ist. Das war gestern nicht nur ein Fußballspiel, da ist sehr viel mehr aus dem Gleichgewicht geraten. Das wird dieses Land sicherlich noch eine ganze Zeit beschäftigen.
Das Interview führte Verena Tröster.