DOMRADIO.DE: Eine Besonderheit des neuen Papstschreibens "Gaudete et exsultate - freut euch und jubelt - Über den Ruf zur Heiligkeit in heutiger Zeit" ist, dass es eine Exhortatio ist. Ich habe mal im Duden nachgeschaut. Im Duden ist das einerseits "Ermunterung", andererseits aber auch "Ermahnung zum rechten Tun". Ist das etwas Besonderes?
Ulrich Nersinger (Vatikan-Experte): Ich bin dem Heiligen Vater sehr dankbar, dass er diese Form eines Schreibens genommen hat. Er sagt ja selber später im Verlaufe seiner Ausführungen, dass er keine Abhandlungen über die Heiligkeit schreiben möchte, sondern eine Exhortatio. Das kann Ermahnung und Ermunterung heißen. Ich denke, in diesem Fall liegt die Betonung eher auf der Ermunterung. Eine Exhortatio hat immer einen erzieherischen Wert. Das ist auch das große Anliegen des Papstes, dass er die Heiligkeit wieder etwas in Erinnerung rufen will. Denn wir haben eigentlich sehr gute theologische Aussagen über die Heiligkeit. Ich denke da an das Zweite Vatikanische Konzil, das in einem der großartigen Dokumente - "Lumen gentium" - zwei Kapitel verwendet, um die Heiligkeit zu erklären und zu verdeutlichen.
DOMRADIO.DE: Aber dann gehen wir doch mal ein auf diese Heiligkeit. Denn Teil des Titels ist ja auch über den Ruf zur Heiligkeit in der heutigen Zeit. Was ist denn die Kernaussage des Papstes?
Nersinger: Für mich zeigt sich in dem Schreiben, dass es dem Papst sehr wichtig ist, dass alle Menschen zur Heiligkeit berufen sind, nicht nur eine bestimmte Berufs- oder Standesgruppe wie Ordensleute oder Priester. Er sieht Heiligkeit als Aufruf und Anspruch an alle Katholiken und Christen.
DOMRADIO.DE: Jeder Christ trägt sie also in sich drin?
Nersinger: Ja, und jeder sollte sie auch fördern und leben. Das haben wir schon im Alten Testament, im Buch Levitikus, heißt es schon: Seid heilig, weil ich heilig bin. Ich denke, das ist schon immer in der Kirche vorhanden gewesen, auch schon im Alten Testament. Das ist ein Aufruf, der universell und für die Zukunft gilt.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie gesagt, dass eine Exhortatio etwas Erzieherisches und Pädagogisches ist. Jeder trägt diese Heiligkeit in sich drin. Gibt er denn auch konkrete Handlungsanweisungen?
Nersinger: Das tut er schon. Er zeigt auch auf, wie Heiligkeit gelebt werden kann und natürlich auch, wie sie nicht gelebt werden soll. Das macht er im typisch franziskanischen Stil, der dazu neigt, die Erklärungen sehr populär und verständlich wieder zu geben. Das finde ich auch schön und wertvoll. Doch so manche Formulierungen können dann auch zu Diskussionen verleiten.
DOMRADIO.DE: Sagen Sie doch mal ein paar Beispiele?
Nersinger: Er verwendet zum Beispiel den Ausdruck der "Mittelschicht der Heiligkeit". Das ist ein Begriff, an dem man sich stoßen könnte. Ich denke mancher Kirchenrechtler und Theologe wird da so ein bisschen Bauchweh bekommen. Ähnlich ist es, wenn er davon spricht, dass es nicht gesund ist, die Heiligkeit im Stillen zu suchen. Ich weiß, was er meint und was sein Anliegen ist und dass es da sicherlich Fehlentwicklungen gibt. Aber so eine Formulierung kann dann auch unter Umständen jemanden erschrecken, der sagt: Warum soll man nicht in einem kontemplativen Leben, so wie es die Eremiten machten, die Heiligkeit finden?
DOMRADIO.DE: Wenn Sie sagen, man solle Heiligkeit nicht im Stillen finden, dann könnte man an den Spruch "Tue Gutes und rede darüber" denken.
Nersinger: Das ist auch etwas, was Franziskus ausmacht und was ihn für viele ansprechbar macht, dass er Vergleiche und Formulierungen bringt, die verständlich sind. Die aber dann bewusst und unbewusst in einem theologischen oder kirchenrechtlichen Kontext leicht missverstanden werden können. Das ist so etwas, was man dann in diesem Schreiben - ich will nicht sagen bemängeln kann -, aber manchmal geht der Papst etwas im Plauderton vor, was nicht schlecht ist. Aber so ein Plauderton birgt natürlich auch so manche Gefahren in sich. Aber andererseits gibt er tolle Erfahrungen und Möglichkeiten wider, wenn er beispielsweise die Heiligkeit anhand der Seligpreisungen der Bergpredigt erklärt. Das sind wunderschöne Gedanken.
DOMRADIO.DE: Das letzte Papstschreiben "amoris laetitia" im Jahr 2016 hatte die Themen Ehe und Familie. Da gab es auch einige Kritik. Sie haben gerade gesagt, es könnte ein bisschen Kritik an der Form und dem Tonfall des neuen Schreibens kommen. Gibt es denn auch inhaltlich etwas, wo möglicherweise Kritik zu erwarten ist?
Nersinger: Ja, das könnte passieren. Vor allem bei Theologen und Kirchenrechtlern könnte die Überlegung kommen, wie Franziskus es denn genau meint. Soweit ich weiß, haben wir noch keinen lateinischen Text. Normalerweise hat so ein apostolisches Schreiben einen lateinischen Grundtext, aber es gibt jetzt nur die Ausgaben in den verschiedenen Landessprachen, so dass es wieder eine Interpretation des verwendeten Wortes ist. Ich denke, es wird zu Diskussionen kommen und es wird auch zu Kritik kommen, was eigentlich nicht schlecht ist, aber hoffentlich nicht die hervorragenden Möglichkeiten, die dieses Dokument für die Beschäftigung mit der Heiligkeit bietet, dann irgendwie mindert.
Das Interview führte Andreas Lange.