DOMRADIO.DE: An diesem Montag wurden Sie in Ihr neues Amt als Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes eingeführt. Sie bringen einiges an Erfahrung mit. Als Schulseelsorger am Canisius Kolleg in Berlin haben Sie mit geflüchteten Jugendlichen gearbeitet. Dort gibt es sogenannte Willkommensklassen. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Pater Claus Pfuff SJ (Neuer Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland): An unserer Schule haben wir uns damals gefragt, wie wir mit Schülern umgehen, die aus verschiedenen Ländern kommen und zum Großteil unbegleitete Minderjährige sind. Zuerst haben wir versucht, Schüler, die in Deutsch gute Fortschritte gemacht haben, in unsere Schule aufzunehmen, bis wir am Canisius-Kolleg die Erlaubnis bekamen, zwei Willkommensklassen zu eröffnen. Wir haben versucht, den Schülern zu erklären, wie Deutschland tickt. Wir wollten ihnen aber auch in ihrer Einsamkeit und in ihrer Fremdheit helfen, hier eine neue Heimat zu finden – nicht nur durch Unterricht, auch mit Kochen und verschiedenen Veranstaltungen. Und dieses Gefühl, dass jemand für sie da ist, der sie ernst nimmt, war für die Schüler sehr wichtig, und hat mich auch dazu bewogen, die neue Aufgabe anzutreten.
DOMRADIO.DE: Das ist auch der wichtige Punkt, den die Kirchen und Sie als Jesuiten-Flüchtlingsdienst in den Mittelpunkt stellen: Dass es bei den Menschen, die zu uns kommen, nicht um Zahlen oder um Namen auf irgendwelchen Zetteln geht. Weshalb ist es so wichtig, dass man den einzelnen Menschen mit seinem Schicksal betrachtet?
Pfuff: Ich habe den Eindruck, die Diskussion hat sich in den letzten Wochen oder Monaten gewandelt. Man hat immer mehr den Eindruck, es handele sich hier um eine Ware, die man bei Nichtgefallen zurückschickt. Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern, in denen Krieg herrscht oder die unter dem Klimawandel leiden. Man muss sehen, dass es um einzelne Schicksale geht, die nicht hierherkommen, um einen schönen Urlaub zu machen, sondern die aus einer Not heraus ihr Land verlassen. Und man muss natürlich sehen, dass wir an den Ursachen für die Flucht mit Schuld tragen. Durch unsere Lebensführung und den Klimawandel, der entsteht, aber auch durch Waffenexporte.
DOMRADIO.DE: Wenn es um Einzelschicksale geht, dann sind wir sofort wieder beim Thema Familiennachzug. Welchen Standpunkt nehmen Sie da ein?
Pfuff: Ich finde, die Familie gehört zu den zentralen Werten in unserer Gesellschaft. Deswegen verstehe ich nicht, dass gerade beim Familiennachzug so große Schwierigkeiten entstehen. Einer unserer Schüler, der mit seinem Vater geflohen ist, bei dem die Mutter krank war und die Schwester nicht mitkommen konnte, hat über Jahre versucht, die Familie nachkommen zu lassen. Alle leiden darunter, getrennt zu sein und nicht für die Familie in Syrien sorgen zu können. Ich verstehe nicht, wieso engste Angehörige nicht nachkommen können, wenn die Familie doch so ein wichtiger Wert für uns ist.
DOMRADIO.DE: Dem Rettungsschiff "Aquarius" wurde die Einfahrt in einen italienischen Hafen verwehrt. An Bord des Schiffes sind 629 Migranten, darunter sieben schwangere Frauen und mehrere Verletzte. Nach längerem Gezerre hat sich Spanien endlich bereiterklärt, das Boot aufzunehmen. Was sagen Sie dazu?
Pfuff: Für mich ist es ein Skandal, dass wir Menschen in Not – darunter schwangere Frauen und Minderjährige – nicht einmal mehr an Land gehen lassen. Damit ist eine große Anfrage an unser Konzept von Europa verbunden: Was heißt es, wenn Menschen in Not nicht mehr geholfen wird? Wohin möchten wir als Europa wirklich steuern? Es ist für mich nicht nur eine Frage dieses einzelnen Schiffes, sondern eine Frage für die Zukunft Europas.
DOMRADIO.DE: Sie haben Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit. Was bedeutet es für einen Menschen, der auf der Flucht war, jetzt auf einem Boot ist und merkt, da gibt es Schwierigkeiten?
Pfuff: Es sind immer Menschen, die eine lange Geschichte hinter sich haben. Es sind keine Menschen, die mal kurz ans Mittelmeer gereist sind und bei Problemen wissen, spätestens in zwei Tagen kriege ich wieder etwas zu essen, dann klappt die Versorgung wieder. Die Menschen tragen eine große Ungewissheit in sich. Sie kommen mit einem Trauma hier an und werden dann noch so schlimmen Erfahrungen ausgesetzt.
Wenn ich mir unsere Schüler anschaue, was für Schwierigkeiten sie oft damit haben, wieder auf ein Boot zu steigen. Ich denke, gerade für solche Menschen ist es ein Horror, nicht zu wissen, was passiert. Und ich denke auch, jeder von uns kann nachvollziehen, wie schlimm es ist, wenn man vor einer Ungewissheit steht, wenn man eine Diagnose erwartet und nicht genau weiß, was mit einem passiert. Mit dieser Ungewissheit so zu spielen, finde ich unverantwortlich.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.