DOMRADIO.DE: Herrr Dr. Boenneke, Sie bauen am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt gerade den neuen Forschungsbereich "Wirkungsästhetik in der Liturgie" auf. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Dr. Sven Boenneke (Liturgiewissenschaftler): Menschen reagieren seelisch und körperlich auf einzelne Elemente eines Gottesdienstes: auf Singen, Beten oder auch Ruhe und Stille. Diese Reaktionen sind messbar. Genau da setzt unsere Forschung an: Wir messen und fragen bei Gottesdienstbesuchern nach, um zu verstehen, wie Menschen mit Leib und Seele, einzeln und in Gruppen, auf Liturgie reagieren.
DOMRADIO.DE: Wie kommt man auf eine solche Idee?
Boenneke: Augen auf! Was geschieht denn an Leib und Seele, wenn wir Messe feiern? Was lässt sich empirisch an Wahrnehmungen und Wechselwirkungen bei Messbesuchern nachweisen? Aus der Wahrnehmungspsychologie oder der Verhaltensforschung etwa gibt es vieles, was sich auch in Gottesdiensten wiederfinden lässt. Solche Wirkungszusammenhänge werden wir nun erstmals auch in der Liturgie erforschen. Das war freilich nur möglich, weil sich die richtigen Leute zusammengefunden haben. Meine Direktorin, Professor Melanie Wald-Fuhrmann, Professor Klaus Peter Dannecker von der Theologischen Fakultät Trier und ich teilen neben dem wissenschaftlichen auch ein persönliches, kirchliches Interesse an einer solchen Forschung.
DOMRADIO.DE: Was versprechen Sie sich von den Ergebnissen dieser Untersuchungen?
Boenneke: Konkrete Einsichten in grundlegende Wirkungszusammenhänge von Liturgie bei den Menschen, die sie feiern. Einerseits wollen wir besser verstehen, wie denn genau zum Beispiel bei der Messfeier die verschiedenen Dimensionen von Liturgie eine Wechselwirkung miteinander eingehen. Andererseits wollen wir empirisch nachvollziehen, welche Reaktionen Liturgie bei Menschen auslöst. Um das herauszufinden, werden wir ab Herbst mit mobilen Sensoren bei Kirchgängern messen, wie Atmung und Puls, aber auch bestimmte Wellenmuster im Gehirn bei einzelnen Abschnitten der Messe ausfallen. Wir werden also konkrete Einsichten gewinnen, wie Gottesdienstbesucher auf die Messe reagieren.
Im Januar haben wir eine Online-Befragung mit dem Titel "Erhebet die Herzen – Singen in katholischen Gottesdiensten" durchgeführt. Bei den knapp 100 Fragen ging es unter anderem um die Häufigkeit der Messbesuche, die Bekanntheit von Liedern, die bewusste Aufnahme von Melodien oder Texten, die Freude am Singen, aber auch um das persönliche Gebetsleben. Dadurch konnten wir Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Faktoren nachvollziehen, die ja alle in das Erleben von Gesang in Gottesdiensten mit hineinspielen. Der musiklische Aspekt hat uns auch deshalb interessiert, weil unsere empirische Liturgieforschung in der Musikabteilung unseres Intitutes angesiedelt ist. Außerdem kann Musik eine emotionale Schlüsselfunktion haben, die für das Erleben und die Akzeptanz von Gottesdiensten wichtig ist.
DOMRADIO.DE: Das heißt, demnächst bekommen Gemeindepfarrer eine Handreichung, auf was sie achten können, damit möglichst viele Menschen in die Kirche kommen?
Boenneke: In der Liturgie soll Verherrlichung Gottes und Heiligung des Menschen geschehen. Wir erforschen leibseelische Wechselwirkungen und Wahrnehmungen bei Menschen während der Gottesdienstfeier. Diese wirkungsästhetischen Zusammenhänge sind ein Teilaspekt von Liturgie, der ihre beiden Grundvollzüge kaum berührt. Denn Gott und Heiligung kann man natürlich nicht messen! Unsere Forschungen können hilfreich nur für das sein, was wir auch untersucht haben.
Abgesehen davon störe ich mich an kleinteiliger Verzweckung von Liturgie. Mit "Verherrlichung Gottes und Heiligung des Menschen" sagt die Liturgiekonstitution des II. Vatikanums ja etwas Großes, Grundsätzliches aus. Das gilt es konkret in liturgische Vollzüge zu übersetzen. Und das ist für mich auch der Maßstab einer gelingenden Liturgie im Sinne der Kirche. "Verherrlichung Gottes und Heiligung des Menschen" ist sozusagen eine qualitative Zielvorgabe und keine rein quantitative, die sich an der Anzahl von Messbesuchern misst. Natürlich stehen die Kirchentüren offen, und volle Sontagsmessen gefallen mehr als leere. Aber als Zielmarke hieße das, einen Zustand der Vergangenheit als Ziel für die Zukunft zu formulieren. Das wäre nicht sehr realistisch. Die Gestalt der Volkskirche vergeht – unwiederbringlich.
Für das Erzbistum Köln hat Kardinal Woelki glücklicherweise einen anderen, einen Zukunftsweg eingeschlagen. Er lädt – so verstehe ich ihn – sein Bistum unter anderem dazu ein, eine lernende Kirche zu sein. Mir scheint, zusammen mit vielen anderen Aspekten mag das vielleicht auch eine liturgisch lernende Ortskirche mit einschließen: zu fragen und zu erspüren, was jetzt gerade dran ist – wohlgemerkt in der Gesellschaft draußen, nicht allein an binnenkirchlichen Themen drinnen. Wie demzufolge jetzt und hier dann stimmige Haltungen und darum brauchbare Umsetzungsstrategien aussehen könnten, um gelingend Gottesdienst miteinander zu feiern, der ehrlich Gott verherrlicht und wahrhaft Menschen heiligt, muss man dann im einzelnen prüfen.
Sie sehen, angesichts solcher Prozesse untersuchen wir mit unserer Feldforschung und unserer Umfrage eher Rahmenbedingungen von Liturgie.
DOMRADIO.DE: Was hat Sie bei Ihrer Online-Befragung zum "Singen in der Messe" denn überrascht?
Boenneke: Die Sozio-Demografie, also woher jemand kommt und wie alt er ist, wirkt sich nicht signifikant auf das Gesangserleben aus. Das Gemeinschaftsgefühl beim Singen beispielsweise hängt mit davon ab, ob jemand überhaupt singen kann, ob er die eigene Stimme mag und ob er die Lieder kennt. Also entscheidet in diesem Fall sein Zugang zur Musik, seine Musikexpertise über seine Möglichkeiten, beim Singen in der Messe Gemeinschaft zu erleben. Und nicht sein religiöser Bezug zur Messe. Im Umkehrschluss bedeutet das: Will man in diesem Sinne ansprechende Kirchenmusik, muss man die entsprechende Expertise vor Ort haben oder eben aufbauen.
Aber auch die Antworten zum Transzendenzerleben haben mich überrascht. Denn das hängt nachweislich davon ab, ob ich für mich persönlich konsequent religiös aktiv bin. Knapp die Hälfte der Messbesucher, die bei unserer Studie mitgemacht haben, betet täglich, aber knapp die andere Hälfte eben nicht. Und das bezieht sich überwiegend auf Aktive der Kerngemeinde! Bei den täglichen Betern ist geistliches Erleben während der Messe dann signifikant ausgeprägter. Also ist das geistliche Leben der Messbesucher, sind persönliche religiöse Voraussetzungen und Dispositionen mitentscheidend für deren Erleben der Messe. Hier kommt es auf den Beter an.
DOMRADIO.DE: Welche Hoffnung verknüpfen Sie mit Ihrer Studie?
Boenneke: Mit unseren Forschungen wollen wir eine ganzheitliche Wahrnehmung von Wirkungen der Liturgie fördern. Das ist zunächst Grundlagenforschung, wie wir sie in der Max-Planck-Gesellschaft betreiben. Dies bedeutet aus kirchlicher Perspektive aber eine Chance für ein wirkungsästhetisches Liturgieverstehen. Bei Interesse lassen sich aus der Einsicht in Wirkungszusammenhänge ja konkrete Anregungen für die liturgische Praxis gewinnen. Hinsichtlich des Gemeinschafts- oder Transzendenzerlebens beim Gesang etwa wäre unserer Online-Umfrage zufolge erst einmal bei den musikalischen Kompetenzen und dem persönlichen geistlichen Leben der Messbesucher anzusetzen. Also nicht bei den gewachsenen liturgischen Formen.
Positiv formuliert: Meine Hoffnung ist, einmal wirkungsästhetische Puzzlesteine für eine selbstzweckhafte, eine sozusagen zukunftsfähige Gottesdienstkultur in lernenden Ortskirchen einbringen zu können. Liturgie ist eine großartige, konkrete Synthese von Sakrament und Wort, Fest und Alltag, persönlichem und gemeinschaftlichem geistlichen Leben, Ortskirche und Kirchorten. Liturgie leistet dadurch einen einmaligen, eigenen Beitrag zu Sammlung und zur Begegnung mit Christus, die damit auf die Sendung in Christo aktiver Katholiken und Ortskirchen zielt.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.
Hinweis: Alle Inhalte und Informationen zur KircheMusikWoche 2018 im Erzbistum Köln.