DOMRADIO.DE: Schaut man auf die Zeit und das, was Papst und Bischöfe damals gesagt haben, hat man stark den Eindruck, dass alle Neuentwicklungen, Menschenrechte, Demokratie oder der moderne Staat vielfach sehr kritisch gesehen wurden. Warum?
Prof. Hubert Wolf (Kirchenhistoriker): Das hängt mit der Französischen Revolution und mit der folgenden Säkularisierung zusammen. Die katholische Kirche, die bis dahin ganz selbstverständlich eine dominierende Kraft war - in Frankreich Staatsreligion und in der Reichskirche in Deutschland ganz maßgeblich - ist in eine ganz tiefe Krise geraten.
Die Schuld an dieser Krise gibt man der "verdammten" Moderne. Die steht für Menschenrechte, steht für Freiheit, steht für Aufklärung und für Abwendung von Autoritäten. Die Krise zu lösen, in die die Kirche aus der Sicht vieler geraten ist, verlangt danach, dass man sich von dieser Moderne abgrenzt. Das hat der Papst ein paar Jahre vorher im berühmten Schreiben "syllabus errorum", einem Rundumschlag gegen die Moderne getan, sodass man jetzt eine neue Identität durch neue Autorität findet.
Die neue Autorität ist natürlich in der Kirche der Papst. Das ist das Thema, das sozusagen in der Luft liegt. Es ist allerdings nicht so, dass Bischöfe und Papst alle ganz einig gewesen wären, sondern es gibt ganz viele Bischöfe - vor allem in Deutschland - die eine ganz gegenteilige Meinung haben. Die sagen: "Wir sind in diesem Land und das ist mehrheitlich evangelisch geprägt. Wir müssen uns mit den evangelisch dominierten Staaten arrangieren und müssen aber auch aus den Freiheitsrechten, die es seit 1848 gibt, etwas machen." Das hat in Deutschland zum Beispiel zur Gründung der katholischen Vereine geführt, was man in Rom überhaupt nicht gern gesehen hat.
DOMRADIO.DE: Heutzutage profitiert die Kirche zumindest in Deutschland von dem guten Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Warum gab es damals zwischen dem Vatikan und den entstehenden Nationalstaaten solche Spannungen?
Wolf: Die Hauptspannung liegt natürlich erst mal in Italien selber. Es gibt den Kirchenstaat. Das ist die päpstliche Herrschaft, die sich über ein Drittel Italiens erstreckt. Jetzt wird im 19. Jahrhundert, wo diese nationale Bewegung groß wird, auch in Italien die Frage gestellt, ob es nicht auch wieder ein großes, einiges Italien gibt. Das größte Problem eines vereinten Italiens, eines italienischen Nationalstaats, ist selbstverständlich der Kirchenstaat, der im Grunde wie ein Sperrriegel mittendrin liegt und eine italienische Einigung unmöglich macht. Das ist das eine.
Das zweite ist, dass Katholiken in modernen Verfassungs- und Nationalstaaten eigentlich gar nicht leben dürfen. Denn wenn die Akzeptierung von Grund- und Menschenrechten als "pesthafter Irrtum" verurteilt wird, wie es Papst Gregor XVI. getan hat und Pius IX. später nochmal wiederholt, wie will man denn dann in einem Staat leben, zugleich gut katholisch sein und ein guter Staatsbürger, wenn man sich gerade auf diese Verfassungsrechte nicht einlassen darf?
Das ist im Grunde die Spannung. Die hat sich beispielhaft bei der Gründung Belgiens nach 1830 gezeigt, wo Katholiken und Liberale miteinander gegen die evangelischen Holländer einen Staat gründen. Und der Papst sagt hinterher: "Schon recht, was ihr da macht. Aber dieser Staat beruht auf einer Basis, die wir nicht akzeptieren können. Grund- und Menschenrechte sind nicht mit der katholischen Lehre vereinbar."
DOMRADIO.DE: Es gab damals starke Kräfte in der Kirche, für die der Papst ganz wichtig war und über allem stand. Diese Fraktion hat sogar das Dogma durchgesetzt, dass der Papst bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren unfehlbar lehrt. Warum betonen die so sehr die Rolle des Papstes damals?
Wolf: Weil sie die Angst haben, dass dieser - wie sie ihn nennen - "Demokratismus", dieses Auseinanderfallen in einzelne Meinungen im Grunde die eine Wahrheit der katholischen Kirche gefährdet. Jetzt versucht man sozusagen in der Brandung der Moderne, in den Irrungen und Wirrungen der Moderne, eine unangreifbare Autorität zu installieren.
Diese ist eben nicht mehr das Konzil und die Übereinstimmung der Bischöfe, sondern die absolute Monarchie des Papstes, der als einziger dafür garantieren kann, dass die Aussagen, die die Kirche macht, die Lehre der Kirche darstellen. Da muss man sich den Titel nochmal klar machen. Er ist der Stellvertreter Jesu Christi. Das heißt, er reicht in die Ewigkeit hinein. Die Aussagen des Papstes sollen die Unsicherheit rausnehmen.
Das Ganze stößt natürlich auf heftigsten Widerspruch vor allem von vier Fünftel der deutschen Bischöfe, die in Rom sind und dieses Dogma mit Nachdruck ablehnen. Man darf nicht vergessen, dass vier Fünftel der deutschen Bischöfe gesagt hat, das könne man unmöglich definieren. Ja, der Papst sei unfehlbar. Aber erst nachdem er sich den Konsens der Bischöfe eingeholt hat.
Diese Formulierung wird dann später verworfen. Der Papst allein, durch sich selber, nicht aber durch die Zustimmung der Kirche, was dann knapp an einer großen Kirchenspaltung vorbeigeführt hat, ist die Autorität. In Deutschland bildeten sich dann die Alt-Katholiken. Eine ganze Reihe von Bischöfen hat auch gezögert, ob sie nicht dieser Bewegung beitreten sollten.
DOMRADIO.DE: Gab es eigentlich auch liberale Kräfte bei diesem Konzil?
Wolf: Wenn man liberal so definiert, dass man sagt man müsse eine Chance haben, die Kirchen zu sammeln, als Generalstände der Kirche verstehen, dass alle miteinander darüber diskutieren, dann gab es natürlich liberale Kräfte. Die machten etwa ein Drittel des Konzils aus. Die setzten sich aber am Ende nicht durch. Nicht zuletzt deshalb, weil die Geschäftsordnung, die der Papst erlassen hat, so einseitig ist, dass es eigentlich Initiativen von unten so gut wie gar nicht geben kann.
Das heißt, es ist auch ein neuer Typ von Konzil, ein "papales Konzil". Normalerweise gibt sich ein Konzil selber die Geschäftsordnung, wählt sich die Präsidenten selber, bestimmt selber, wie das Vorgehen ist. Dies alles ist auf dem ersten Vatikanischen Konzil nicht der Fall.
Das Interview führte Tobias Fricke.