Vielleicht haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Berliner Spitzenpolitiker ja tief durchgeatmet. Nach dem frühen WM-Aus der deutschen Nationalmannschaft blieb ihnen eine Fahrt nach Russland erspart - und damit neuerliche Debatten über Wladimir Putin, die Menschenrechte und die Rolle des Fußballs im Dickicht aus Sport, Kommerz und Politik.
Sport, Kommerz und Politik
Diese Dreierkette steht, wie jetzt auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) zu spüren bekommt. Vor dem Turnier trafen sich die Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan auf einen viel kritisierten Fototermin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. DFB-Präsident Reinhard Grindel und Teammanager Oliver Bierhoff versuchten zunächst, das Thema möglichst klein zu halten.
Jetzt befeuern beide die Debatte - was manch einer als Nachtreten wertet. Özil, der sich im Gegensatz zu Gündogan bislang nicht öffentlich zu dem Treffen mit Erdogan äußerte, werde - bei aller berechtigten Kritik an seinem Verhalten - zum Sündenbock gemacht, schreibt der Grünen-Politiker Cem Özdemir in der "Zeit". Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, fordert auf Facebook sogar den Rücktritt Grindels und Bierhoffs.
Spielwiese für Konflikte
Fairplay scheint in diesen Tagen keine Stärke des DFB zu sein. Das zeigte auch der unsportliche Jubel beim - einzigen - WM-Sieg der Deutschen gegen Schweden. Für Empörung sorgten allerdings auch andere Entgleisungen. So wollte Serbiens Trainer Mladen Krstajic nach dem Spiel gegen die Schweiz den deutschen Schiedsrichter Felix Brych vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sehen.
Die Schweizer Nationalspieler Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka, beide mit kosovo-albanischen Wurzeln, formten im selben Spiel nach ihren Treffern mit den Händen das Wappentier Albaniens, einen doppelköpfigen Adler. Davon wiederum fühlten sich die Serben provoziert. Einmal mehr wurde der Rasen zu einer Spielwiese für politische Konflikte.
Disziplinarverfahren der FIFA
Die FIFA-Disziplinarkommission verlangte daraufhin laut "Bild"-Zeitung von Krstajic 4.304 Euro, von Shaqiri und Xhaka 8.608 Euro. Die höchste Summe mussten freilich die Kroaten mit 60.256 Euro abdrücken. Sie hatten im Achtelfinale gegen Dänemark Wasser getrunken, das nicht vom FIFA-Sponsor Coca Cola stammte.
Der Kommerz geht dem Weltfußballverband offenbar über alles, wie nicht nur Stefan Gmünder und Klaus Zeyringer feststellen. Bereitwillig gäben Staaten ihre Hoheitsrechte rund um die Stadien an die FIFA ab, kritisieren die Autoren der Fußball-Philippika "Das wunde Leder".
Transfergeschäfte einzelner Spieler
Unterdessen treibt der Transferwahnsinn beinahe täglich neue Blüten. Real Madrid sah sich während der WM dazu genötigt, ein Rekordgebot von 310 Millionen Euro für den brasilianischen Star Neymar zu dementieren. Unter Dach und Fach ist dagegen der Wechsel von Cristiano Ronaldo zu Juventus Turin für 105 Millionen Euro, "ein Schnäppchen", wie es in den Medien hieß. Dennoch wollen Fiat-Mitarbeiter in den Streik treten: Denn sie wünschten sich die Millionen der Agnelli-Familie, die sowohl Juve als auch Fiat kontrolliert, seien besser in den Autokonzern geflossen.
Ebenfalls sicher ist ein neuerlicher Eigentümerwechsel beim AC Mailand: Nach Silvio Berlusconi und dem chinesischen Unternehmer Li Yonghong kommt nun der US-Hedgefonds Elliott des Milliardärs Paul Singer zum Zuge. Das gemeine Fußballvolk steht beim Poker um die Ware Fußball im Abseits. Als "Millionengräber" bezeichnet Christian Frevel vom katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat die zwölf für die WM 2014 in Brasilien gebauten Stadien. Die meisten Vereine könnten sich die von den Betreibergesellschaften geforderten Mieten nicht leisten. Fußball gebe es deswegen kaum zu sehen. Stattdessen Events wie Massenhochzeiten oder Weltmeisterschaften im Treppensteigen.
Caritas international über WM-Spielstätte
Über die schätzungsweise 800 Millionen Euro teure WM-Spielstätte im russischen Sankt Petersburg heißt es in einem Bericht von Caritas international, nur wenige hundert Meter davon entfernt wachse die neue Zentrale von Gazprom in den Himmel. Der 462 Meter hohe Prestigebau sei umstritten, weil die Kluft zwischen Arm und Reich in der Metropole seit Jahren wachse. In der Bundesliga sponsert Gazprom den FC Schalke 04, einen Verein, in dessen Heimatstadt Gelsenkirchen die sozialen Herausforderungen ebenfalls zunehmen.
Die WM in Russland ist mit dem Abpfiff des Finalspiels Geschichte; demnächst ist Katar an der Reihe. Seit Jahren schon prangern Menschenrechtler die unhaltbaren Zustände auf den WM-Baustellen des Wüstenstaates an. Wenn das Turnier kurz vor Weihnachten 2022 startet - im Sommer ist es in Katar zu heiß -, wird darüber wohl niemand mehr sprechen.
"Der Fußball kann keine politischen Probleme lösen, an denen auch die wirklich politisch Mächtigen scheitern", sagte DFB-Boss Grindel der "Zeit" vor dem Turnier in Russland. Kritiker wären sicher schon froh, wenn der Fußball wenigstens Verantwortung für die durch ihn selbst geschaffenen Missstände übernähme.