Hinter jedem Flüchtling steckt ein Einzelschicksal

"Für uns beginnt ein neues Leben…"

Fluchtgeschichten haben meistens nur Nachrichtenwert – erst recht, wenn sie tödlich enden. Eher selten wird eine solche Geschichte aus der Sicht der Betroffenen erzählt. Dabei gibt es auch viele mit einem Happy End. Die der Familie Emmanuel ist eine davon.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Blessing möchte die traumatischen Erlebnisse ihrer Flucht am liebsten vergessen. / © Tomasetti (DR)
Blessing möchte die traumatischen Erlebnisse ihrer Flucht am liebsten vergessen. / © Tomasetti ( DR )

Wenn Blessing die kleine Miracle in den Armen hält und das zwei Jahre alte Mädchen seine Mutter anlacht, kann die Nigerianerin ihr Glück manchmal gar nicht fassen. Das krause Haar ihrer Tochter hat sie zu kleinen Zöpfen geflochten. Und deren große schwarzen Augen leuchten, wenn Papa Adebayo sie in die Luft wirft. Das Kind ist ein unbeschwerter kleiner Wirbelwind. Wenn es nicht auf dem Sofa herumturnt, widmet es sich zärtlich seiner kleinen Schwester Mirabell, die bald ihren ersten Geburtstag feiert. Oder aber Miracle folgt den Bildern im Fernsehen, das eigentlich immer läuft – wegen der Nachrichten, mit denen ihre Eltern die Schreckensbotschaften von immer neuen Toten auf dem Mittelmeer oder den dort umherirrenden Rettungsschiffen verfolgen, die in den Häfen an der Küste Südeuropas unerwünscht sind.

Blessing und Adebayo Emmanuel leben mittlerweile in einer kleinen Wohnung in Bergisch Gladbach, nachdem ihnen kurz nach ihrer Ankunft im Dezember 2015 von der Stadt zunächst ein leerstehendes Zimmer in einem Alten- und Pflegeheim zugeteilt worden war und wenige Tage später – kurz vor Weihnachten – Miracle zur Welt kam. Der Name "Wunder" ist bewusst gewählt. Die inzwischen vierköpfige Familie findet nämlich, dass sie mit allem, was sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren in Deutschland erlebt hat, das große Los gezogen hat. "Wir sind so unendlich dankbar, hier in Sicherheit zu sein", sagt Blessing leise.

Doch in ihren Träumen kommen manchmal die furchtbaren Erinnerungen zurück. Denn die 26-Jährige hat das denkbar Schrecklichste erlebt. Manchmal erzählt sie davon und von ihrer Heimat, wo sie eigentlich eine glückliche Kindheit und Jugend hatte. Bis die Terrorogruppe Boko Haram kam, in der gesamten Umgebung grausame Attentate verübte, mit Bombenangriffen immer wieder die Bevölkerung in Panik versetzte und viele Zivilisten willkürlich umbrachte.

Ständige Angst vor den Terroristen

"Irgendwann war uns klar, dass es keine Alternative mehr zu einer Flucht gibt", berichtet Blessing. "Wir wussten, wenn wir in Nigeria bleiben, leben wir in ständiger Angst oder werden eines Tages selbst von den Terroristen getötet. Es war lebensgefährlich zu bleiben und lebensgefährlich zu fliehen." Zuletzt hat sie mit ihrem Mann in Lagos, der größten Stadt Nigerias mit rund 13 Millionen Einwohnern, gewohnt, obwohl Blessing aus Anambra State im Osten des Landes stammt und katholisch ist, und Adebayo aus dem Westen kommt und keiner Religion angehört. Erst als die Unruhen begannen, reisten sie in den Norden, wo aber auch schon bald nichts mehr sicher war, weil auch hier die Boko Haram bereits weite Gebiete besetzt hatte und Hunderttausende damals vor den Islamisten flohen.

Nigerias Präsident Muhammadu Buhari hat Boko Haram den Krieg erklärt. Doch immer wieder verüben IS-Truppen Massaker an der Zivilbevölkerung. Nach eigenen Angaben verfolgt die Terrorgruppe das Ziel, in Nigeria einen islamischen Staat zu errichten. "Boko Haram" bedeutet so viel wie "westliche Bildung ist verboten". Selber bezeichnen sich ihre Mitglieder allerdings als "Anhänger der Verbreitung der Lehren des Propheten und des Heiligen Krieges".

Flucht - erstmal nach Libyen

Konkret werden die Fluchtpläne von Blessing und Adebayo am Weihnachtstag 2014. In der Heiligen Nacht explodiert in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrem Haus in einer Kirche eine Bombe, die viele Menschen das Leben kostet. "Überall lagen Leichen herum, es war einfach nur furchtbar", beschreibt Adebayo den Tag nach dem Massaker. "Nun mussten wir endlich etwas tun. Aber wir hatten kaum Geld und wussten, dass eine Flucht nur über Libyen möglich ist. Wir hatten davon gehört, dass andere es auch so machen." Die Flucht über den Luftweg war ausgeschlossen. "Man braucht ein Visum, und das bekommt man von den Behörden nicht, um legal ausreisen zu können. Also ist man gezwungen zu fliehen, wenn es dunkel ist." Im März wird Blessing schwanger. Dennoch schlagen sich die beiden zu Fuß bis Libyen durch.

Auf diesem langen Weg fehlt es ihnen an Wasser und Nahrung. Streckenweise müssen sie durch die Wüste, und sie sehen immer wieder viele Tote, bis sie ihr Ziel erreichen. Als sie ankommen, sind sie total erschöpft. Doch Adebayo muss Geld verdienen, um genügend für eine Mittelmeerüberfahrt auf einem Schlepperschiff zusammenzusparen. Denn sie haben erst den einen Teil ihrer Flucht geschafft. Adebayo arbeitet daraufhin vier Monate in der Stadt Sabha in einer Autowerkstatt, während Blessing den ganzen Tag im Haus bleiben muss – aus Angst, es könnte sie jemand entführen oder sonst bedrohen. "Als Frau auf die Straße zu gehen, bedeutete, sich in Lebensgefahr zu begeben", erzählt Blessing. "Es war eine schreckliche Zeit." Doch noch einmal nimmt das Paar seinen ganzen Mut zusammen und schlägt sich weiter bis nach Tripolis durch.

Mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer

Als sie schließlich eines von zwei Schlauchbooten besteigen, die sie von der Nordküste Afrikas nach Sizilien bringen sollen, wissen sie, dass diese Reise für sie einen ungewissen Ausgang hat. "Aber es gab kein Zurück mehr", sagt Blessing. "Wir dachten, entweder sterben wir im Krieg der Boko Haram oder jetzt auf dem Wasser. Hinzu kam, dass ich nicht schwimmen kann und große Angst vor Wasser habe. Ich fürchtete, falls das Boot kippen sollte, würde ich ertrinken." Mit 125 Menschen an Bord sei das Boot völlig überladen gewesen. "Es war viel zu eng, man konnte sich nur ganz ruhig verhalten, sonst wäre sofort Panik ausgebrochen. Wir hatten alle furchtbare Angst."

Nach zwei Tagen und zwei Nächten auf offenem Meer und ohne Land in Sicht – wieder ohne Trinkwasser und Essen – hören sie nachts plötzlich Schreie aus der Dunkelheit. Das andere Schiff hat an Luft verloren und droht zu sinken. "Die Menschen haben geschrien, sie hatten Todesangst, aber wir konnten ja überhaupt nichts machen und mussten zusehen, wie sie sterben. Um uns herum war nur Himmel und Wasser und eigentlich alles dunkel. Weit und breit war nichts anderes zu sehen." Blessing ist immer noch erschüttert, wenn sie an diese Situation zurückdenkt.

Ihr Boot wird schließlich von einem Hubschrauber in der Luft bemerkt und später von einem der im Mittelmeer umherfahrenden Späh-Schiffe aufgegriffen. "Das war unsere Rettung. Dafür danke ich Gott. Mich haben sie erst einmal an einen Tropf gelegt. Ich hatte tagelang nichts mehr getrunken. Auf Lampedusa haben sie dann in einer Krankenstation des Roten Kreuzes gecheckt, ob es meinem Baby auch noch gut geht. Zum Glück war alles in Ordnung. Trotzdem waren die Helfer auf Sizilien mit den vielen täglich ankommenden Flüchtlingen total überfordert. Wir wussten nicht, wie es für uns weitergehen würde", sagt Blessing.

Den zweiten Teil der Geschichte von Blessing und Adebayo Emmanuel lesen Sie hier.


Quelle:
DR