Das Thema Missbrauch lässt die Kirche nicht los. Auf 884 Seiten dokumentiert der Bericht einer "Grand Jury" in Pennsylvania Fakten aus kirchlichen Akten und Zeugenaussagen, die ein erschütterndes Bild abgeben. In den vergangenen sieben Jahrzehnten wurden demnach mehr als 1.000 meist männliche Kinder und Jugendliche von über 300 katholischen Priestern und Kirchenmitarbeitern sexuell missbraucht. Experten vermuten, dass die Dunkelziffer noch höher ist. Bereits 2002 veröffentlichte die Tageszeitung "The Boston Globe" ihren Bericht über weit verbreiteten kirchlichen Missbrauch im gleichnamigen Erzbistum. Die dunkle Welle des kirchlichen Verbrechens und Versagens hat seitdem Land für Land erfasst. Von Irland über Deutschland und Polen bis Australien und Chile.
Es sind nicht nur die vielen Berichte der Opfer, die oft ein Leben lang darunter leiden, was Priester, Ordensgeistliche und in Einzelfällen auch Bischöfe ihnen angetan haben, die mich erschüttern und betroffen machen. Fassungslos registriere ich, dass die Vertuschung der Taten und das Schützen der Täter damals bis in die höchsten kirchlichen Kreise an der Tagesordnung waren. Richtig wütend aber macht es mich, wenn bis heute versucht wird zu vertuschen oder sich hinter Verjährungsfristen zu verstecken. Dass es immer noch Geistliche gibt, die glauben, es sei für die Kirche doch am allerbesten, wenn man diese "bedauerlichen Einzelfälle" nicht an die große Glocke hängt. Die geschwärzten Namen und Passagen im jetzt in Pennsylvania veröffentlichten Bericht stärken mein Vertrauen nicht. Es ist auch tief traurig, dass Medien, Staatsanwälte und unabhängige Untersuchungskommissionen weit mehr kirchliche Dunkelmänner und ihre erschreckenden Straftaten ans Licht der Öffentlichkeit bringen als die eigenen, innerkirchlichen Untersuchungen.
Ja, es gibt gute kirchliche sexuelle Aufklärungs- und Präventionsarbeit, gerade in Deutschland. Es gibt viele wunderbare Geistliche, die in der pastoralen Kinder- und Jugendarbeit jeden Tag neu hervorragende Arbeit leisten. Die große Mehrheit der katholischen Verantwortlichen hat inzwischen auch erkannt, dass nur eine absolute Null-Toleranz-Politik helfen kann, die verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Zur nötigen Glaubwürdigkeit gehört aber auch, sich im gesamten Bereich von Kirche und Sexualität mehr Klarheit und Wahrheit zu verordnen. Beispiele gefällig? Es gibt homosexuelle Priester. Vermutlich sogar mehr als in einigen anderen Berufsgruppen. Aber jeder Einzelne, der darin bestärkt wird, seine Homosexualität verlogen zu verneinen, wird zum Risikofall für die kirchliche Glaubwürdigkeit. Es gibt heterosexuelle Priester, die mit der zölibatären Lebensweise nicht klar kommen. Vermutlich nicht mehr oder weniger als Eheleute die ihrem Partner untreu werden. Aber wenn diese Priester ihre Sexualität im Verborgenen ausleben, hat die Kirche auch durch sie ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Ganz klar, hier dürfen nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden: Zölibatär lebende Priester und Ordensleute schänden nicht automatisch Kinder und Jugendliche, obwohl das immer wieder neu in der Öffentlichkeit kolportiert wird. Aber auch 50 Jahre nach der Veröffentlichung von Humanae Vitae ist das Thema Kirche und Sexualität immer noch ein unbewältigtes Tabu-, Konflikt- und Problemthema. Vielleicht hilft die Erkenntnis, dass gerade das von Gott geschenkte Leben und die damit verbundene Sexualität nicht zuerst in Gesetzen und Normen geregelt, sondern in Verantwortung und Wahrheit gelebt werden müssen.