KNA: Wie ist es heute im vereinigten Europa um die Solidarität bestellt?
Lech Walesa: Wir leben in einer Zeit, in der Grenzen gefallen sind. Die große Diskussion ist nun: Wie soll Europa aussehen? Auf welchen Fundamenten sollte es stehen? Wenn wir das geklärt haben, geht es um die Frage: Welche Wirtschaftsform wollen wir? Und die dritte Frage lautet: Wie kommen wir mit Demagogie und Populismus klar? Wenn es für all das keine Lösungen gibt, dann werden Dämonen geweckt wie die Trumps und Kaczynskis. Reden wir im Radio und im Fernsehen darüber, wie Europa aussehen und wer regieren soll.
KNA: Ein wichtiges Thema ist auch der Umgang mit Migration.
Walesa: Wir haben Europa vereinigt und taten so, als ob uns nicht klar war, dass Migranten kommen würden. Das, was momentan passiert, ist nur ein mahnender Zeigefinger. Es werden noch echte Probleme kommen, wenn China und Indien ihre Tore öffnen. Und das wird passieren. Solche Migrationswellen sind für die Zukunft Europas gefährlich. Kleinere Bewegungen sind beherrschbar, aber große sind problematisch, denn die Menschen werden langsam anfangen, Forderungen aufzustellen. Sie unterscheiden sich von uns, was zu Konflikten führen wird. Deswegen sollten wir ihnen helfen, ihre Länder aufzubauen.
KNA: Worauf sollte sich Europa gründen?
Walesa: In Europa haben wir verschiedene Glaubensrichtungen und auch Atheisten. Deswegen sollten wir uns darauf einigen, so etwas wie "Zehn laizistische Gebote" aufzustellen. Und die sollten wir zum Fundament erklären. Wer in die Europäische Union kommt, erhält diese zehn Pflichten und Rechte. Wenn es so etwas jetzt schon gäbe, würden Polen und Ungarn sich nicht so verhalten wie sie es zurzeit tun.
KNA: Dort sind rechtskonservative oder nationalistische Strömungen sehr stark - die dürften sich für einen solchen Katalog an Forderungen kaum interessieren.
Walesa: Lasst uns die Parteistrukturen verbessern. Was haben wir denn noch für Parteien? Menschen sind heutzutage sehr bequem: Niemand geht zu Versammlungen oder zahlt Mitgliedsbeiträge für Parteien, aber jeder erhebt sich zu einem Besserwisser. Das ist wie in Polen vor den letzten Wahlen. Menschen wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Es fehlt an politischer Führung. Unserer Generation ist es gelungen, Trennungen zu überwinden.
KNA: Aber?
Walesa: Man weiß nicht, wie man weiter vorgehen soll. Immerhin: Die Trumps und Kaczynskis zwingen uns, nach Lösungen zu suchen. Am Ende werden wir ihnen quasi aus "Dankbarkeit" noch Denkmäler errichten müssen, weil sie uns aufgerüttelt und zur Tat gezwungen haben. Sie haben im Grunde genommen mit Vielem recht, nur lösen sie die Probleme auf falsche Art und Weise. Wie es stattdessen gehen sollte, müssen wir alle gemeinsam diskutieren.
KNA: Wie ist es um das deutsch-polnische Verhältnis bestellt, und was können Deutschland und Polen für den europäischen Zusammenhalt tun?
Walesa: Wir müssen die Zeit, in der wir leben, verstehen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts ging es darum, in Kategorien von Territorien zu denken. Es ging zum Beispiel um Verschiebungen von Grenzen. Im 21. Jahrhundert müssen wir in Europa nun in großen Strukturen denken. Die europäischen Grenzen sind überwunden. Stattdessen gibt es Europa und die globalisierte Welt. Dafür fehlen aber Programm und Strukturen. Deswegen sind die Menschen so unzufrieden.
KNA: Anfang Juni rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Polen vor dem Hintergrund der Debatte über die Justizreform zur Rechtsstaatlichkeit auf und warnte vor einem Zerbrechen des Zusammenhalts in der EU. Sind seine Warnungen berechtigt?
Walesa: Wir sind auf der Suche. Die Union ist unter anderen Voraussetzungen entstanden. Die Frage ist: Lohnt es sich, die Union zu reparieren, oder soll sie grundsätzlich neu aufgebaut werden? Wir haben zwei Optionen. Die Frage betrifft Frankreich, Deutschland und Italien, denn Europa erwartet Antworten von diesen Ländern.
Steinmeier hat recht, wenn er warnt. Auch Polen und Ungarn haben in gewissem Sinne recht: Denn was vorhanden ist, ist auch nicht immer gut. Es ist nicht klar, was die Pflichten und die Rechte sind.
KNA: In den 1980er Jahren hatte die katholische Kirche einen starken Einfluss auf die polnische Freiheitsbewegung. Können Sie sich vorstellen, dass sich auch heute die Kirche - oder überhaupt Religionsgemeinschaften - an die Spitze von Veränderungen stellen?
Walesa: Die Kirche entstand aus dem Volk. Die Kirche verhält sich wie die Gläubigen. Es kommt darauf an, ob wir eine gute Lösung finden können. Auch Zuspitzungen müssen erlaubt sein. Entscheidend ist aber, dass wir daraus zielführende Schlussfolgerungen ziehen. Man soll Politikern die Möglichkeit geben, sich zu erklären.
KNA: Tun sie das nicht schon?
Walesa: In der Europäischen Union spricht jeden Tag ein anderer Minister zum Volk und sagt: Wir möchten nur das beste für euch. Nur wissen wir nicht wie. Genau das ist der Punkt: Sagt es uns! Wir haben das Feld geräumt und es Populisten und Demagogen überlassen. Niemand kämpft wirklich gegen Globalisierungsgegner. Gäbe es eine offene Diskussion mit diesen Menschen, würden sich die Zuhörer selbst ein Bild machen können.
KNA: In den 1980er Jahren spielte der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Kommunismus. Welche Rolle könnte heute Papst Franziskus spielen?
Walesa: Die damalige Zeit hatte ihre eigenen Strukturen, die ein bestimmtes Verhalten erforderten. Wie Sie wissen, bin ich praktizierender Katholik. Und ich glaube, dass die Kirche vom Heiligen Geist geführt wird. Der Heilige Geist gab uns den polnischen Papst, der uns alle vereinigt hat. Wir beseitigten den Kommunismus.
Jetzt haben wir einen anderen Papst, der zu unserer Epoche passt, der das Verhalten und den Glauben neu justiert. Das ist sehr schwierig. Er hat damit genauso Probleme wie Politiker. Aber der Heilige Geist wird ihn schon in eine neue Zeit führen.
Das Interview führte Leticia Witte.