DOMRADIO.DE: Was für eine Bedeutung hat diese Zahl "70.000" für Sie?
Gunter Demnig (Künstler und Initiator der "Stolpersteine"): Vor dem Hintergrund dieses Projekts ist es immer schwer zu sagen: "Ich freue mich". Der Hintergrund ist kein Grund zur Freude. Denn letztendlich sind 70.000 Steine 70.000 zu viel.
DOMRADIO.DE: Für wen genau ist dieser siebzigtausendste Stein?
Demnig: Die Initiative in Frankfurt hat ihn bewusst ausgesucht. Willy Zimmerer war ein Mensch, der aus körperlichen Gründen, er war behindert, von den Nazis ermordet worden ist. Man muss sich klarmachen, dass die Nazis das Vergasen von Menschen mit den Behinderten geübt haben und dass die Männer, die in den Tötungsanstalten von Hadamar und Grafeneck ihr Werk getan haben, nach Auschwitz geschickt worden sind, um Juden in riesigem Stil zu vergasen.
DOMRADIO.DE: Die meisten Menschen denken spontan, wenn Sie von Opfern des NS-Regimes hören, wahrscheinlich zuerst an Juden. Sind das die meisten Geschichten und Steine, die Sie recherchiert haben?
Demnig: Im Ganzen genommen sind es die meisten Geschichten, aber es gibt durchaus Unterschiede in Deutschland. In Backnang bei Stuttgart sind 26 behinderte Menschen ermordet worden und sechs jüdische Opfer. Das ist ein extremer Unterschied. Aber überall dort, wo Behinderte ermordet worden sind, kommen jetzt Steine. Es war erst sehr schwierig, weil auch Kliniken gemauert haben, die nicht zugeben wollten, dass so etwas passiert ist. Aber das wird besser.
DOMRADIO.DE: Sie haben bisher in 23 Ländern solche Stolpersteine verlegt. Sind die immer und überall willkommen?
Demnig: Natürlich sind sie nicht willkommen, ich auch nicht. Aber mit drei Morddrohungen in 20 Jahren kann man leben. Natürlich gefallen die nicht jedem, manche werden ja daran erinnert, wem die Häuser vorher gehört haben. Aber es ist eben deutsche Geschichte. Das gehört dazu.
Das Grundkonzept meines Projektes war überall dort in Europa, wo die deutsche Wehrmacht, SS, Gestapo ihr Unwesen getrieben haben, für alle Opfergruppen irgendwann symbolisch Stolpersteine verlegt zu haben.
DOMRADIO.DE: Es kommen nach Frankfurt zu der Verlegung der Stolpersteine auch Angehörige der Menschen, deren Namen auf den Steinen stehen. Woher kommen die Leute?
Demnig: Von der ganzen Welt, kann man sagen. Die weiteste Anreise, die ich bisher erlebt habe, war von Tasmanien nach Köln. Weiter geht es nicht. Es gibt Familientreffen, wo Menschen aus fünf Ländern aus drei Kontinenten anreisen, die sich vorher noch nie getroffen haben. Es kommen manchmal wirklich vier Generationen zusammen. In Polen hatte ich die Verlegung eines Steines von einem Großvater und einer Großmutter und es kam aus St. Louis in den USA eine 19-köpfige Familie angereist. Das sind bewegende Momente.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.