"Unser Lebensstil ist wie Kettenrauchen und Komasaufen auf Kosten des Planeten." Die Naturschutzorganisation WWF findet drastische Worte, wenn es um den Zustand der Erde geht. Seit mehr als 40 Jahren lebt die Menschheit ökologisch auf Pump und verbraucht mehr natürliche Ressourcen, als der Planet erneuern kann.
Derzeit wären 1,7 Erden nötig, um den Bedarf an natürlichen Rohstoffen wie Ackerland und Wäldern nachhaltig zu decken.
Am Wendepunkt
"Wir stehen an einem Wendepunkt, und wir haben die Wahl, wohin die Reise geht", erklärte die Umweltschutzorganisation am Dienstag in Genf und Berlin: Der "Living Planet Index", ein seit 1998 alle zwei Jahre erstellter ökologischer Gesundheits-Check der Erde, ist auf einen neuen Tiefpunkt gefallen.
Der Zahl der in Wildnis lebenden Wirbeltiere - erhoben hat der WWF Daten zu 16.704 Populationen von 4.005 Wirbeltierarten - hat zwischen 1970 und 2014 um 60 Prozent abgenommen. Im ersten "Living Planet Report" lag er noch bei 30 Prozent für den Zeitraum 1970 bis 1995.
Zwar war der Rückgang in den 1980er- und 1990er-Jahren am stärksten. Doch im Vergleich zum letzten Bericht 2016 gingen erneut zwei Prozent der Tierarten verloren. Darunter auch das weltweit letzte männliche Breitmaulnashorn, das im Frühjahr nach 45 Lebensjahren starb.
Süd- und Zentralamerika stark betroffen
Besonders stark schrumpfen laut WWF die Bestände von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien in Süd- und Zentralamerika. Dort sank ihr Bestand um 89 Prozent gegenüber 1970. Hauptgründe für diesen beispiellosen Rückgang sind laut WWF der Verlust von Lebensraum, zum Beispiel durch Landwirtschaft, Bergbau und die wuchernden Städte. Auch die Übernutzung der Böden, die Überfischung der Meere und die Verschmutzung der Gewässer durch Plastik werden dafür verantwortlich gemacht.
Als sehr dramatisch beurteilt der WWF die Situation in den tropischen Regenwäldern, wo besonders viele Arten leben. Zwar habe sich die Entwaldung verlangsamt, doch setzten sich die großflächige Rodung für Landwirtschaft, Bergbau, Straßenbau und Siedlungen fort. Auch der Plastikmüll in den Meeren bedroht die Tierwelt: Nach einer Studie von 2015 gelangten 2010 zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen Plastik in die Meere. Hauptverursacher waren dabei die Länder Südostasiens, allein die Hälfte stamme aus China, Indonesien, den Philippinen, Thailand und Vietnam.
Doch auch Deutschland und Europa tragen dazu bei, dass die biologische Vielfalt massiv unter Druck gerät: "Vor unserer Haustür sind monotone Agrarlandschaften ohne Wiesenvögel, Schmetterlinge, Wildbienen und Frösche entstanden", heißt es. Zudem habe Deutschland auch maßgeblichen Anteil am Rückgang der biologischen Vielfalt weltweit: "Für unseren Lebensstil fallen in Südamerika, Afrika oder Asien Bäume, verschmutzen Flüsse, schwinden Tierbestände oder sterben Arten ganz aus", sagt der Geschäftsleiter Naturschutz beim WWF Deutschland, Jörg-Andreas Krüger.
Mensch ruiniert eigene Lebensgrundlage
Wissenschaftler sprechen von einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden ist.
"Die Menschheit sägt am Ast, auf dem sie selber sitzt", warnen die Umweltforscher. "Die Natur ist kein verzichtbares Luxusgut." Schließlich liefert die Natur auch sauberes Wasser, Essen und Medizin. Die Autoren des Berichts haben diese "Dienstleistungen" der Natur auch in eine Geldsumme übersetzt: Sie sind demnach pro Jahr 100 Billionen Euro wert - das ist mehr als 1,5 mal so viel wie die Weltwirtschaftsleistung.
Der WWF warnt, das Fenster, um diese Entwicklung aufzuhalten, schließe sich unaufhörlich. Notwendig sei ein schnelles Umdenken und ein anderer Lebensstil. Konkret fordert der WWF EU-weite Nachhaltigkeitskriterien für importierte Agrar- und Mineralrohstoffe und einen internationalen Waldfonds mit mindestens 100 Millionen Euro Jahresbudget. In der EU sollten mindestens 50 Prozent der Agrarsubventionen nur an diejenigen Landwirte fließen, die nachweislich Klima- und Umweltschutzziele umsetzen. Dringend notwendig seien auch strenge internationale Vereinbarungen gegen die Plastikflut.