Die Folgen des Anschlags auf die Synagoge von Pittsburgh

Unter Juden in den USA geht die Angst um

Das Massaker von Pittsburgh geht als schwerster Anschlag gegen die jüdische Gemeinde in die US-Geschichte ein. Viele Juden fühlen sich nicht mehr sicher.

Mahnwache in Pittsburgh / © Bronte Wittpenn | Times (dpa)
Mahnwache in Pittsburgh / © Bronte Wittpenn | Times ( dpa )

Den Unterschied zwischen Leben und Tod kann Judah Samet mit einem Blick auf seine Armbanduhr bemessen: Der 80-Jährige, ein regelmäßiger Besucher der "Tree of Life"-Synagoge in Pittsburgh, verspätete sich zum Sabbat-Gottesdienst am Samstag um vier Minuten.

Unpünktlichkeit rettete sein Leben

Die seltene Unpünktlichkeit rettete vermutlich sein Leben. Er verpasste den Attentäter Robert B., der elf Menschen tötete - beziehungsweise der Attentäter verpasste ihn.

Samet gehört seit 54 Jahren einer konservativen jüdischen Gemeinde in Pittsburgh an, die sich die Synagoge mit zwei anderen Gemeinden teilt. Das Gotteshaus ist der Mittelpunkt für die rund 12.000 Juden von Squirrel Hill, dem Hügel der Eichhörnchen, vor den Toren der Stadt, unweit der beiden Universitäten und umgeben von koscheren Restaurants und Bäckereien. Die Synagoge, die knapp 1.500 Besuchern Platz bietet, wird umrahmt von einer Bilderbuchlandschaft mit Backsteinhäusern und viel Grün. Seit den Schüssen eines Rechtsterroristen vom Samstag ist die Idylle Sinnbild eines neuen und brutalen Antisemitismus in den USA.

Angst macht sich breit in Squirrel Hill. Rabbi Jeffrey Myers forderte am Sonntag bei einer Mahnwache ein Ende des Hasses und zielte damit auch in Richtung des Weißen Hauses. "Wir haben einen Präsidenten, der die düsteren Kräfte nicht versteht, die er entfesselt", ist sich Gemeindemitglied Ed Wolf sicher. Stephen Cohen, Leiter der "New Light Congregation", einer der drei jüdischen Gemeinden, die sich die Synagoge in Pittsburgh teilen, pflichtet ihm bei. Erst komme der Hass in Reden zum Ausdruck, dann in Taten.

Seit Trumps Amtsantritt nehmen antisemitische Übergriffe zu

Squirrel Hill habe mit dem Tod von elf Gemeindemitgliedern seinen Status als sicherer Ort verloren, glaubt Rabbi Alvin Berkun, der früher selbst Gottesdienste in der Synagoge leitete. Das Gefühl, in der US-Gesellschaft verankert und akzeptiert zu sein, schwindet zunehmend.

Laut der in New York ansässigen Anti Defamation League, die jüdische Diskriminierung verfolgt, schnellten antisemitische Übergriffe seit Trumps Amtsantritt um 57 Prozent in die Höhe. Rund 6,7 Millionen Juden leben in den USA. Die meisten sind religiös, andere fühlen sich kulturell dem Judentum verbunden.

Experten sind sich sicher, dass Trumps Rhetorik gegen Flüchtlinge und Minderheiten Früchte trägt. Antisemitismus sei das "Lebenselixier des Extremismus", so der Direktor des Zentrums für Extremismus, Oren Segal. Neu sei der Kontext der Gewalttaten, so der Antisemitismus-Forscher Eric Ward. Feindliche Rhetorik komme jetzt aus dem Mainstream der Gesellschaft. Opfer seien auch andere: Farbige, Muslime, Flüchtlinge, Schwule und Lesben, empörten sich progressive jüdische Gemeindeführer unmittelbar nach den Schüssen in der Synagoge.

"Rothschild des 21. Jahrhunderts"

Die Stimmungsmache gegen Juden sei so schlimm wie seit Jahrzehnten nicht mehr, resümiert der Präsident der Interreligiösen Allianz, Rabbi Jack Moline. Rechtsextreme verwendeten etwa den Begriff "Globalisten" als Synonym für Juden. So wird zum Beispiel der liberale Milliardär George Soros verunglimpft, ein ungarischstämmiger Jude. Er gilt unter Trumps Anhängerschaft als "Rothschild des 21. Jahrhunderts". Und er erhielt vergangene Woche eine der 14 Paketbomben, die ein anderer Terrorist mit Sympathien für Trump an dessen Kritiker verschickte.

Besonders schockiert sind hochbetagte US-Juden, die als Holocaust-Überlebende in die USA auswanderten. Der Anschlag in Pittsburgh weckt nun erneut alte Traumata. "Ich traue mich kaum zu sagen, dass wir möglicherweise am Anfang dessen stehen, was in Europa passiert ist", sagte Rabbi Marvin Hier, Gründer des Simon Wiesenthal Centers, der "New York Times". Und: "Ich fürchte, das Schlimmste kommt noch."

Judah Samet weiß, wovon der Rabbi spricht. Als Kind überlebte er das Konzentrationslager Bergen-Belsen nur durch glückliche Umstände. Am Samstag sprang der Holocaust-Überlebende in Pittsburgh dem Tod ein zweites Mal von der Schippe.

Von Bernd Tenhage


Schülerinnen der Yeshiva School of Pittsburgh gedenken des tödlichen Anschlags auf Juden / © Charles Fox (dpa)
Schülerinnen der Yeshiva School of Pittsburgh gedenken des tödlichen Anschlags auf Juden / © Charles Fox ( dpa )