"Ich konnte kaum atmen", erinnerte sich Augenzeuge Baldur Ubbelohde vor fünf Jahren im Berliner "Tagesspiegel". "Asche und Staub bliesen mir ins Gesicht." Nur wenige Menschen irrten durch die Straßen der Reichshauptstadt, Geröll und Schutt versperrten den Weg. Kurz zuvor hatten fast 800 Flugzeuge der britischen Royal Air Force ihre Bomben über Berlin abgeworfen. Allein in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1943, vor 75 Jahren, sollten 2.000 Menschen sterben, 175.000 Berliner wurden obdachlos.
Getroffen wurde unter anderem die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße - die meisten Mitglieder der Gemeinde waren zu diesem Zeitpunkt längst geflohen oder von den Nationalsozialisten in Konzentrationslager deportiert worden. Die Tierhäuser im Zoologischen Garten brannten lichterloh, ebenso das Rathaus und Schloss Charlottenburg. Und die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Wie aus heiterem Himmel
Hoch schlugen die Flammen aus dem Gotteshaus, dem 113 Meter hohen Hauptturm knickte die Spitze weg. Der damals 14-jährige Ubbelohde hatte unterdessen andere Sorgen. Er wollte schleunigst zu seinen Eltern und der Schwester in der nahe gelegenen Nürnberger Straße. Der Angriff kam für die meisten Berliner wie aus heiterem Himmel. Nebel lag über der Stadt, die alliierten Flieger würden heute wohl nicht kommen, hieß es. Doch dann gingen um 19.30 Uhr die Sirenen los. Wenig später setzte ohrenbetäubendes Dröhnen und Pfeifen ein. Ubbelohde hatte Zuflucht in einem Luftschutzkeller gefunden: "Mit jeder Explosion hörte man die fremden Menschen im Keller wimmern, alle hatten schreckliche Angst."
Die nach Kaiser Wilhelm I. benannte Kirche, 1895 durch seinen Enkel Wilhelm II. eingeweiht, war nach der Feuersbrunst nur noch ein schwarzer Schatten ihrer selbst. Das darum herumliegende Amüsierviertel am Kurfürstendamm mit seinen Cafes und Bars, seinen Kinos und Theatern, in denen zu Vorkriegszeiten Stars wie Josephine Baker oder Marlene Dietrich auftraten: kaum wiederzuerkennen. Am Kriegsende waren noch 43 von 235 Bauten nutzbar.
Mit Angriffen aus der Luft versuchten die Alliierten, "den Gegner in seiner Kampfmoral zu treffen", wie der Historiker Ludolf Herbst schreibt. "Der Gegner" - das war Deutschland und Adolf Hitler, der den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte. Die deutsche Luftwaffe hatte mit Warschau, Rotterdam oder London und Coventry ihrerseits schon feindliche Städte ins Visier genommen. In allen Fällen trug mehrheitlich die Zivilbevölkerung die tödlichen Konsequenzen. 1940 flogen die Briten ihre ersten größeren Angriffe, ab 1943 weiteten sie mit den Amerikanern die Operationen aus. "Vier Fünftel der Bomben über deutschen Städten wurde 1944 und 1945 ausgeklinkt", schreibt Herbst. Die Niederlage Deutschlands war besiegelt.
Nach dem Krieg: Abreißen?
In Berlin stellte sich nach Kriegsende die Frage, was aus den Resten der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche werden sollte. Abreißen? An anderer Stelle neu errichten? Das Rennen machte schließlich Architekt Egon Eiermann, der den verbliebenen Turmstumpf mit einem modernen Gebäudeensemble umgab. Als sein "Lebenswerk" bezeichnete Eiermann die 1961 fertiggestellte Einheit. Ein Blickfang sind die mehr als 20.000 verbauten Glaselemente, meist in blau und rot gehalten, gestaltet von Gabriel Loire. "Blau ist der Friede, rot ist die Freude", begründete der Künstler aus dem französischen Chartres einmal seine Farbwahl.
Die neue Kirche wurde zu einem "Ort der Stille und des Gebets" und zu einem Mahnmal gegen Krieg - während draußen der "Kalte Krieg" zwischen West und Ost aus Berlin eine geteilte Stadt machte. Der Kurfürstendamm avancierte zu einer Art Schaufenster des Wirtschaftswunders West: mit Kaufhäusern und Kabarett, weniger mondän als zu Zeiten der Weimarer Republik, gleichwohl stark frequentiert.
Nach der Wiedervereinigung begann der Putz allenthalben etwas zu bröckeln. Vor zwei Jahren dann sorgte ein islamistischer Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche für Schlagzeilen. Es ist, als bleibe das Gotteshaus auf fast unheimliche Weise mit der Geschichte von Krieg und Gewalt - und der Sehnsucht nach Frieden - verbunden.