Einsamkeit im Alter betrifft vor allem Frauen

Warten, dass jemand kommt…

Einsamkeit ist häufig eine Folge existenzieller Umbrüche im Leben, die das soziale Netzwerk verändern: der Verlust des Partners, eines Kindes, einer sinnvollen Beschäftigung oder der eigenen Energie. Manchmal kommt auch alles zusammen.

Alte Menschen leben viel von Erinnerungen: Walburga Rüttenauer (Mitte) bringt Zeit für Ingrid Lutterberg (rechts) und deren Nachbarin mit. / © Tomasetti (DR)
Alte Menschen leben viel von Erinnerungen: Walburga Rüttenauer (Mitte) bringt Zeit für Ingrid Lutterberg (rechts) und deren Nachbarin mit. / © Tomasetti ( DR )

Für unser Gespräch hat sich Ingrid Lutterberg zurecht gemacht. Make-up und Lippenstift hat sie frisch aufgelegt, und auch auf einen eleganten Schal – passend zu der Weste aus Kunstpelz und den glänzenden Leggings – wollte sie nicht verzichten. Für die 73-Jährige ist der angekündigte Besuch ein Anlass, es noch einmal so wie früher zu halten, als sie noch unter Menschen ging und etwas hermachen wollte. Für die seltenen Einkäufe, die sie zumeist am Wochenanfang erledigt, damit sie dann erst einmal nicht mehr vor die Tür muss, betreibe sie einen solchen Aufwand kaum noch, sagt sie. Früher, ja, da habe es noch Spaß gemacht, sich chic zu machen, ins Auto zu setzen und einfach mal loszufahren oder sich in der Gaststätte, die von der Mutter und deren Lebenspartner betrieben wurde, wie im eigenen Wohnzimmer zu fühlen, wo viele Bekannte und Freunde ein- und ausgingen und das Leben pulsierte. Aber das ist lange her. Gefühlt eine halbe Ewigkeit. Tatsächlich aber nur wenige Jahre.

Erst starb Lutterbergs einziger Sohn Sascha. Das war im April 2012. Ein Anruf mit der unerwarteten Todesnachricht, obwohl der 43-Jährige von Geburt an nicht sprechen konnte und schon lange in einer Einrichtung für geistig Behinderte lebte, veränderte alles. "Bis heute weiß ich gar nicht genau, was da passiert ist. Man hat mir die Todesumstände nicht genau erklären können. Ich komme einfach nicht darüber weg. Im nächsten Jahr wäre er 50 geworden", sagt Lutterberg mit brüchiger Stimme.

Begleiter fehlen

Elf Monate später stirbt ihre Mutter, die nur 19 Jahre älter als sie selbst gewesen ist, an den Folgen eines Schlaganfalls. Die beiden waren immer ein eingespieltes Team, das viel gemeinsam unternahm. "Wir waren oft in der Welt unterwegs. Bei unseren Fahrten ins Blaue haben wir immer gesungen und vor allem viel gequatscht." Und auch einen kleinen Hund hatten Mutter und Tochter immer dabei. Nun steht er – wie auch die Mutter und der Sohn –  in einem Fotorahmen auf ihrer Kommode. "Heute noch einmal ein Tier zu nehmen, ist auch ein Kostenfaktor", winkt sie ab und verweist auf ihre kleine Wohnung, für die sie einen Wohnberechtigungsschein hat und in der kaum noch Platz für die Gesellschaft eines kleinen Vierbeiners ist. Trotzdem: Fehlen tue ihr ein solch treuer Begleiter schon. Überhaupt macht sie die Erinnerung an das, was einmal so unbeschwert in ihrem Leben war, bevor sie ganz allein da stand, traurig. Vor allem aber sind es die Gedanken an Saschi, wie sie ihren Sohn liebevoll mit Kosenamen nennt, und der Verlust der Mutter – Seelenverwandte und Freundin zugleich –, die ihr jeden Tag ohne die beiden schwer machen.

Heute sind der ehemaligen Büroangestellten, die wegen einer bescheidenen Rente im Bensberger Ernst-Bollmann-Haus lebt, Kontakte zu den Nachbarn oder anderen Frauen in ihrer Situation lästig, wie sie sagt. Weihnachten allein – das müsste nicht sein. Sie könnte mit Bekannten feiern. "Aber ich will das nicht. Ich bin immer froh, wenn die Festtage wieder vorbei sind. Ich hänge nicht mehr daran." Ja, früher hatte sie immer schon im Advent einen Tannenbaum, und auch eine frische Gans habe sie rechtzeitig bestellt. Heute reichten ihr eine Flasche Rotwein und ihr Fernsehen mit den alten Serien, die sie am liebsten sehe. "Ich weiß ja, dass ich es anders haben könnte und meine Einsamkeit selbst gewählt ist. Aber noch bin ich mein eigener Herr und entscheide selbst über mein Leben", fügt sie nicht ohne Trotz hinzu. Was sie nicht verpasse, sei das "Trauercafé" im Hospiz des benachbarten Vinzenz Pallotti Hospitals. Dahin gehe sie regelmäßig an jedem ersten Montag im Monat. Und dort trifft Lutterberg Menschen, denen es ähnlich geht wie ihr. Die von der Erinnerung leben. Und kaum noch Energie haben, das Jetzt und Hier zu ertragen. Und dann komme ja auch ab und zu noch Walburga Rüttenauer von der katholischen Kirche, sagt sie. Sie selbst sei längst ausgetreten. Trotzdem sei es gut, mit jemandem zu reden oder an den von ihrem Helferteam organisierten Kaffeerunden mit dem einen oder anderen Impuls teilzunehmen.

Tod des Sohnes nie überwunden

Anna Schüchter konnte sich ihre Situation nicht aussuchen. Auch ihre Einsamkeit ist einem schweren Schicksalsschlag geschuldet. Sie weiß, was es heißt, allein zu sein. Witwe ist die 92-Jährige schon vor 22 Jahren geworden. Ihren schwerkranken Mann hat sie bis zu seinem Tod gepflegt. Und von ihm gelernt, nie mit hängendem Kopf aus dem Haus zu gehen und alles mit Humor zu nehmen. Egal was kommt. "Ich bin eine Frohnatur, also fiel mir das zunächst nicht schwer", erzählt sie. Bis zu dem Tag, als ihr Sohn Bernd mit 51 Jahren stirbt. Herzversagen. Dabei habe er sich Tags zuvor noch mit ihr für den nächsten Morgen verabredet. Aber Bernd kommt nicht. Nie mehr. Für die Mutter von drei Söhnen und zehn Enkelkindern folgt eine schwere Zeit – mit vielen "dunklen Stunden" und großer Einsamkeit, wie sie sagt. "Ich habe viel gegrübelt und habe immer auf jemanden gewartet, dem ich mein Herz ausschütten konnte." Den Tod des Sohnes habe sie nie überwunden. "Auch die Hungerjahre nach dem Krieg waren hart, aber der Verlust meines Kindes ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe."

Dann stirbt im vergangenen Juli in der Nachbarschaft die Schwägerin, die erst nach zwei Tagen in ihrer Wohnung gefunden wird. "Als dann die Polizei vor meiner Tür stand, habe ich nur noch geschrien. Plötzlich wiederholte sich alles noch einmal." Wie viele Tränen sie im Verlauf der Jahre geweint, wie viel Zeit sie mit Warten verbracht habe – das könne sie gar nicht mehr hochrechnen. Denn wenn so gar nichts passiere, sich das Leben woanders abspiele – nur nicht mehr in den eigenen vier Wänden – dehnten sich die Tage unendlich lang. Manchmal waren die Fußpflegerin oder die Friseuse, die ins Haus kommen, der einzige Kontakt zur Außenwelt. "Denn auch die eigenen Kinder können ja nicht immer kommen, auch wenn mein Sohn aus Bayern jeden Abend anruft", entschuldigt Schüchter ihr Alleinsein.

Totale Einsamkeit in Kombination mit Mittellosigkeit 

Und wenn sich dann endlich einer ankündige, doch im letzten Moment etwas dazwischen komme, sei das jedes Mal eine herbe Enttäuschung. Was ist das Leben überhaupt noch wert, habe sie sich oft gefragt und entschieden, bereit zum Sterben zu sein. Gerade auch nachdem sie vor gar nicht langer Zeit einen Oberschenkelhalsbruch auskurieren musste und seitdem nur noch mit fremder Hilfe und daher eher selten aus dem Haus kann. "Die größte Freude", so sagt sie, "habe ich, wenn Besuch kommt, oder wenn ich meine wechselnden Hilfen im Alltag, die mir jetzt regelmäßig zur Hand gehen, in ein kleines Café einladen kann. Dann kommt mir ein solcher Nachmittag in Gesellschaft wie acht Tage Urlaub vor." Auch die Termine des Seniorenkreises der evangelischen Kirche sind in ihrem Kalender rot angestrichen. Doch wenn zwischendurch die Einsamkeit aufs Gemüt drücke, verliere man allen Lebenssinn.

Einsamkeit im Alter ist vor allem weiblich, sagen die Experten. Und oft sei regelrecht Überzeugungsarbeit notwendig, um alte Menschen aus ihrer Isolation zu holen. Diese Erfahrung jedenfalls macht Walburga Rüttenauer, ehrenamtlich in der Seniorenarbeit der Bensberger Gemeinde St. Nikolaus tätig. Sie ist regelmäßig im Ernst-Bollmann-Haus, um sich dort um die alleinstehenden Menschen – eben vorwiegend Frauen – zu kümmern. Es brauchte seine Zeit, bis aus anfänglichen Besuchen an der Wohnungstür eine Art Hausgemeinschaft geschaffen werden konnte, die heute füreinander Verantwortung übernimmt. "Es ist die totale Einsamkeit in Kombination mit Mittellosigkeit und manchmal auch Krankheit, die diesen Menschen kaum Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe eröffnet", beobachtet Rüttenauer. "Jeder lebt für sich, eher anonym." Mittlerweile aber seien ihre Besuche, der Gesprächskreis bei Kaffee und Kuchen sowie die damit verbundenen spirituellen Angebote für die Bewohner unentbehrlich geworden. Dazu gehören Wortgottesdienste und das Totengedenken für die Verstorbenen der Hausgemeinschaft genauso wie die Sternsingeraktion am Anfang des Jahres, Gedächtnistraining, Spiele, Filme und Basteleinheiten, aber auch Advents- und Weihnachtsfeiern. Eine Struktur dafür habe sie sich selbst geschaffen, erklärt die ehemalige Lehrerin. "Ich bin damals ins kalte Wasser gesprungen und habe mir einfach etwas überlegt."

Seelsorgerische Dimension 

Wer Menschen auf dem letzten Stück Lebensweg begleitet, erlebt unweigerlich, dass sein Dienst auch eine seelsorgerische Dimension hat. Alte Menschen, die sonst niemanden mehr haben, brauchen jemanden, der zuhört, Aufmerksamkeit schenkt und Zeit mitbringt. Denn es gibt oft ein großes Bedürfnis zu reden: über die Vergangenheit, die Familie – wenn es noch Angehörige gibt – oder belastende Erfahrungen. Sie sind empfänglich für Glaubensthemen, haben jedoch einen besonderen, oft sehr emotionalen Zugang zu religiösen Fragen.

Walburga Rüttenauer sieht ihren Einsatz daher vor allem als pastorale Aufgabe, zu der auch seelsorgliche Einzelgespräche gehören, die gelegentlich in eine Sterbebegleitung übergehen, wenn sie einen Bedarf dafür sieht und niemanden in Not sich selbst überlassen will. Denn die meisten Bewohner sind auf sich allein gestellt. Sogar eine Zusatzqualifikation im Umgang mit dementiell veränderten Menschen hat sie dafür absolviert, um auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. "Mir ist wichtig, diesen Menschen erfahrbar zu machen, dass sie in einer Gemeinschaft leben, die trägt." Alt, einsam und arm – dieses Stigma dürfe nicht ihr Leben bestimmen, ist Rüttenauer überzeugt. "Mit unseren Initiativen und Aktionen, die diese alten Menschen aus ihrer Isolation holen wollen, soll jeder Einzelne spüren: Ich bin gemeint."


Der Tod ihres Sohnes hat Anna Schüchter sehr einsam gemacht. / © Tomasetti (DR)
Der Tod ihres Sohnes hat Anna Schüchter sehr einsam gemacht. / © Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR