DOMRADIO.DE: Woher kommt diese zunehmende Einsamkeit im Alter?
Gabriele Pechel (Referentin in der Altenpastoral des Erzbistums): In der Alltagswahrnehmung wird Einsamkeit schnell und fast ausschließlich mit dem Alter verbunden. Eine alte Frau, die alleine in ihrer Wohnung lebt und nicht oft vor die Tür geht, wird als einsam wahrgenommen. Ein Mann, der keine Angehörigen mehr hat und daher im Pflegeheim lebt und wartet – auf einen Besuch, auf die nächste Mahlzeit, auf das Personal, mit dem wenigstens im Vorübergehen für einen Moment einige Worte ausgetauscht werden können – ist einsam. In unserer Gesellschaft leben immer mehr ältere Menschen. Und im Alter, insofern stimmt diese Einschätzung auf den ersten Blick, wächst das Risiko zu vereinsamen – vor allem wenn der Partner oder die Partnerin verstorben ist. Das Phänomen Einsamkeit betrifft übrigens Frauen häufiger als Männer, da sie älter werden und im Alter häufiger alleine leben. Und wenn dann noch Krankheit und Armut dazu kommen, wächst das Risiko, sich einsam zu fühlen. Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich, dass Einsamkeit eben nicht nur von der älteren Generation erlebt wird. Mit Einsamkeit umzugehen ist eine Herausforderung für die Menschen aller Altersstufen. Auch Jugendliche können davon betroffen sein oder Kinder, die vernachlässigt werden. Meine Erfahrung ist, dass jeder Mensch irgendwann einmal Phasen von Einsamkeit durchlebt.
DOMRADIO.DE: Einsamkeit ist andererseits auch ein sehr subjektives Gefühl, das heißt, es gibt die gefühlte Einsamkeit, die faktisch nicht unbedingt bestehen muss…
Pechel: Das ist richtig. Wenn junge Menschen erleben, dass sie niemand versteht, haben sie das Gefühl, einsam zu sein, auch wenn sie in einem tragfähigen Familienverbund leben. Und wenn es ihnen nicht gelingt, sich mit dem, was ihnen wichtig ist, mitzuteilen, fühlen sie sich nicht nur einsam oder unverstanden, sondern auch hilflos. Die Empfindung von Einsamkeit entsteht, wenn jemandem bewusst wird, dass etwas fehlt, was er notwendig braucht: Familie, Heimat, Freunde, ein soziales Netzwerk. Manche Menschen fühlen sich zeitlebens unverstanden, also von Gott und der Welt verlassen – sie denken: Keiner will mich, keiner mag mich, keiner versteht mich. Natürlich kann auch Liebeskummer in tiefe Einsamkeit stürzen. Tatsache ist, je älter ein Mensch wird, desto häufiger können Einsamkeitsgefühle auftreten. Durch psychische und physische Einschränkungen und Verluste wird die Pflege von Kontakten erschwert. Ehepartner und Freunde sterben. Und auch die räumliche Entfernung zu den eigenen Kindern beeinträchtigt und kann Lebensmut nehmen. Da sind dann Advent und Weihnachten, der Jahreswechsel oder auch der Sterbetag eines geliebten Menschen emotional besonders aufgeladene Zeiten. Das Erleben von Einsamkeit kann denjenigen, den es betrifft, geradezu lähmen, und macht den, der beistehen möchte, oft ratlos. Verändern kann sich nur etwas, wenn auch der Mensch, der sich einsam fühlt, einen kleinen Schritt macht.
DOMRADIO.DE: Sieht Kirche denn diese Menschen, die oft ja hinter den sprichwörtlich herunter gelassenen Jalousien leben?
Pechel: Einsamkeit wird in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert. Meiner Einschätzung nach wird es auch immer schwieriger, darüber zu sprechen. Denn das ist ein sehr schambesetztes Thema. In unserer Gesellschaft existiert ein Bild vom Menschen, wie er zu sein hat: nämlich aktiv, mit Sozialkontakten und gut mit anderen vernetzt. Das führt zu der Vorstellung, nur der ist ein lebendiger Teil der Gesellschaft, der ständig mit anderen – vor allem auch über die sozialen Netzwerke – in Kontakt ist. Das kann aber keine Einsamkeit verhindern, denn Einsamkeit ist – wie gesagt – ein sehr subjektives Gefühl. Ich kann gut vernetzt sein und trotzdem einsam. Hier wird die Idee transportiert: Wenn ich will, dann kann ich auch. Das heißt, ich bin selbstverantwortlich dafür, ob ich einsam bin oder nicht, und nur ich alleine kann etwas daran ändern.
Das pastorale Wirken der Kirche folgt nun dem Auftrag Jesu, allen Menschen seine Zuwendung aufzuzeigen und ihnen zu helfen, mit den als negativ beschriebenen und erlebten Veränderungen im Alter zurecht zu kommen und Schritte aus der Einsamkeit heraus zu tun. Altenpastoral will das Vertrauen stärken, dass bei allen Veränderungen das grundsätzliche Angenommen-Sein durch Gott unverbrüchlich gilt. Und Altenpastoral ist ein Beziehungsgeschehen. Gerade wenn Menschen im Alter die Fähigkeit verlieren, neue Beziehungen aufzubauen, dann sollen sie in der Kirche erfahren: Ich bin nicht allein und auch nicht allein gelassen. Ja, wir nehmen diese Menschen sehr gezielt in den Blick, damit sie die Möglichkeiten, die sie von Gott mitbekommen haben, leben können und es für sie ein Leben in Würde bis zuletzt bleibt.
DOMRADIO.DE: Warum steigert sich dieses Gefühl der Einsamkeit denn geradezu auf Feste wie Ostern oder Weihnachten hin nochmals?
Pechel: Zum einen gaukelt uns die Werbeindustrie eine Idylle vor, in der die heimelige Wohnstube eine große Rolle spielt, weil hier angeblich die Sehnsucht nach Verbindung und Bindung, die zu Weihnachten oder Ostern noch einmal viel stärker wachgerufen wird, gestillt wird. Und dann werden Ostern und Weihnachten eben vor allem auch als Familienfest assoziiert. Wer unterm Jahr einigermaßen mit seiner Einsamkeit zurecht kommt, erfährt das Alleinsein, wenn alle anderen vermeintlich harmonisch in ihren Familien miteinander feiern, noch einmal als umso bedrückender. Und mit dem Alleinsein kommen zwangsläufig auch immer wieder viele Erinnerungen hoch: gerade auch die, wie es früher einmal war, als der Partner, die Partnerin noch lebte, oder wie behütet das Fest in der eigenen Kindheit ablief. Und dann kommt die Sehnsucht, es wieder so haben zu wollen, die ins Leere geht. Und diese Sehnsucht macht traurig – nicht nur alte Menschen.
DOMRADIO.DE: Auf Ihrer Homepage läuft das Selbstverständnis der Altenpastoral unter der Profilierung eines "Lebens in Fülle". Welchen Beitrag leistet denn die Kirche, damit das keine leeren Worte bleiben?
Pechel: In den Kirchengemeinden und Verbänden läuft schon eine ganze Menge. Dennoch könnte man dort noch einiges an Phantasie entwickeln, um alten Menschen mehr Angebote zu machen, aus ihrer Isolation herauszukommen und ihnen zu vermitteln: Du gehörst zu uns. Die Erwachsenenseelsorge liefert gerade in Kooperation mit dem Caritasverband oder den Maltesern viele Anstöße zur Vernetzung und unterbreitet vor Ort sinnvolle und tragfähige Angebote, die Einsamkeit entgegenwirken sollen. Auch die Telefonseelsorge ist ein kirchliches Angebot, das übrigens von vielen einsamen Menschen genutzt wird, um für kurze Zeit das Alleinsein in den eigenen vier Wänden zu unterbrechen. Es gibt in manchen Gemeinden als Anlaufpunkt den gemeinsamen Mittagstisch, wo in Gesellschaft eine Mahlzeit eingenommen werden kann. Und es gibt die Pfarrbesuchsdienste in Altenheimen und Krankenhäusern, die das Ziel verfolgen, Menschen ohne Angehörige Zugehörigkeit und Anteilnahme zu vermitteln. Zuletzt noch haben wir von der Altenpastoral gemeinsam mit dem Diözesancaritasverband zu der Tagung "Blick-Kontakt" eingeladen, bei der es darum ging, mit anderen zusammen Projekte zu entwickeln, um eben dieses "Leben in Fülle", die Teilhabe am kirchlichen Leben, auch alten Menschen, um deren drohende Vereinsamung wir wissen, zu ermöglichen. Auch die Praxiswerkstätten "Sorgende Kirchengemeinde" und "Die Welt des hohen Alters" verfolgen dieses Ziel. Es gibt namentlich sogar Projekte wie "Gemeinsam statt einsam" oder "Weihnachten ist niemand allein". Trotzdem wollen wir einsame, unter Umständen von der Kirche abgekoppelte Menschen immer wieder neu mit großer Achtsamkeit entdecken und dürfen nicht müde werden, neue Ideen und Initiativen zu entwickeln. Es ist an uns, bei Aussagen wie "Wozu bin ich denn überhaupt noch nütze?" hellhörig zu werden und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Wir könnten uns viel häufiger die Frage stellen, was uns Gott durch gebrechliche, alte und einsame Menschen sagen möchte. Gerade in ihnen, den Schwächsten, kann sich die Größe Gottes zeigen. Vielleicht lässt auch die Aussage von Mutter Teresa aufhorchen, die gesagt hat: "Die schlimmste Armut ist Einsamkeit und das Gefühl, unbeachtet und unerwünscht zu sein."
DOMRADIO.DE: Sie haben es schon erwähnt: Auch ein Student, der mitten in einem sprudelnden Umfeld von Sozialkontakten lebt, kann einsam sein. Kündigt sich Einsamkeit biografisch an?
Pechel: Einsamkeit gehört zum Leben und kann jeden Menschen betreffen. Jeder kommt einmal in eine Situation, in der er sich nicht mehr mitteilen kann – bis hinein in die Erfahrung des Sterbens. Einsamkeit sei der Preis für die Einmaligkeit des Menschen, heißt es. Aber ja, auch eine Disposition dafür kann es geben, im Alter einsam zu sein, die eventuell durch eine Persönlichkeitsstruktur vorgegeben ist und sich damit gewissermaßen ankündigt. Wer sich schon in jungen Jahren mit Sozialkontakten schwer getan hat und viel für sich war, wird sich wahrscheinlich im Alter eher einsam fühlen als andere.
DOMRADIO.DE: Was können Gemeinden tun, um ihren Blick für einsame Menschen zu schärfen?
Pechel: Zunächst einmal genau hinsehen. Und dann gibt es ja auch diese Konnotation von Armut und Einsamkeit. Daher zielen viele caritative Angebote darauf ab, Armut zu lindern und – damit eng verbunden – eben auch die Einsamkeit. Kirchliche Angebote verfolgen häufig das Prinzip von Gemeinschaft. Wenn aber Menschen nicht mehr die gemeindlichen Gruppenangebote im Pfarrsaal annehmen können, müssen wir eben statt einer "Komm-Struktur", die in solchen Fällen nicht mehr greift, eine "Geh hin-Struktur" installieren. Selbst wer in der Gemeinde bekannt ist, muss nicht automatisch vor Einsamkeit gefeit sein. Nur sehr selten offenbaren die Betroffenen selbst ihr Leid. Unsere Aufgabe ist es dann, für alte Menschen erlebbar zu machen, dass sie in der Gemeinschaft von Christinnen und Christen aufgehoben sind. Sie sollen wissen, dass ihr Leben und ihr Glaube wichtig sind für die anderen, dass sie gefragt sind als Wissende, die von ihren Lebens- und Glaubenserfahrungen berichten können. So verstanden geben alte Menschen ein wichtiges Zeugnis.
DOMRADIO.DE: Gibt es Parameter, die Einsamkeit definieren? Manchmal geht es doch auch – wie gesagt – "nur" um gefühlte Einsamkeit, wenn die eigenen Kinder alles Menschenmögliche tun, viel Zeit in Besuche bei der alleinlebenden Mutter oder dem alleinlebenden Vater investieren, um ihnen nahe zu sein, sie aber daran scheitern, dass es in der subjektiven Wahrnehmung des anderen nie genug ist…
Pechel: Immer geht es um ein Gefühl. Da kann es in der Tat sein, dass die äußeren Umstände nie auf die Einsamkeit eines Menschen schließen lassen würden. Einsam ist, wer das von sich selbst sagt. Wie gesagt: Mitten in einer großen Menschenmenge und mitten im prallen Leben kann potenziell jeder von einem Gefühl der Einsamkeit übermannt werden. Aber es gibt auch Episoden, die zu einer chronischen Einsamkeit führen können. Und dann wird es für den Einzelnen schwer bis unmöglich – vergleichbar einem Krankheitsverlauf – aus dieser Spirale noch einmal herauszufinden. Einsamkeit ist eine existenzielle Grundkonstante. Auch Jesus war einsam, als er im Garten Gethsemani in Todesangst betete und seine Jünger bat, doch bei ihm zu bleiben und zu wachen. Und trotzdem ist Einsamkeit nicht vordergründig etwas, was mit dem Sohn Gottes assoziiert wird.
DOMRADIO.DE: Gibt es etwas, was Sie einsamen Menschen raten könnten?
Pechel: In der Altenpastoral akzeptieren wir, dass es Zeiten des Rückzugs gibt. Sie betrachtet menschliches Dasein als lebenslangen Prozess, in dem jedes Lebensalter seine eigenen, ihm zukommenden Aufgaben zu lösen hat. Rückzug von Aktivität und Geschäftigkeit ermöglicht alten Menschen, sich auf die Reise nach innen zu begeben, den Wurzeln des eigenen Lebens nachzuspüren. Sie müssen keine Leistung mehr erbringen, sondern können "Frucht bringen" im Sinne des biblischen Gleichnisses vom Mann, der Samen aussät, sich schlafen legt und am Morgen feststellt, dass die Saat aufgegangen ist – auch wenn er nicht weiß wie. Doch wenn der Rückzug schmerzt, das Alleinsein eine schwere Last wird, dann muss man selbst den ersten Schritt tun, um die Situation zu verändern. Das kann einem auch niemand abnehmen. Bei den Tipps möchte ich auf den 90-jährigen Derek Taylor aus Großbritannien hinweisen, der empfiehlt: Unternimm etwas, um (neue) Kontakte zu knüpfen. Werde Mitglied in einem Verein. Greife öfter zum Telefon und melde dich bei deinen Bekannten. Suche den Kontakt zu Verwandten, mit denen du lange nicht gesprochen hast. Freunde dich mit deinen Nachbarn an. Arbeite ehrenamtlich, um mit anderen dieses Engagement zu teilen. Oder denke über einen Untermieter in deiner Wohnung nach.
Wer sich traut einen Schritt nach Vorne zu tun, Mut zeigt – für den hält vor allem auch die Kirche eine ganze Menge an gemeinschaftsstiftenden Angeboten bereit.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti (DR)