Neues Ruhr-Wort: Sie begehen am kommenden Sonntag Ihr Diamantenes Priesterjubiläum mit einem Hochamt in der Marienkirche. Sie sind vor 60 Jahren zum Priester geweiht worden. Was hat sie damals dazu bewegt, diesen Weg zu gehen?
Franz Grave (Emeritierter Weihbischof in Essen): Ich habe gute Beispiele in der Familie und unter den Gemeindepfarrern und Religionslehrern erleben dürfen. Es waren diese Menschen, die mich mit ihrem überzeugenden und verbindlichen Vorbild auf diesen Weg gebracht haben, weil sie mich daran teilhaben ließen, was sie konnten und was sie waren. Und ich bereue auch heute nicht, diesen Weg gegangen zu sein.
Neues Ruhr-Wort: Sie sind kurz vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil Priester geworden. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Grave: Das war eine Aufbruchzeit. Wir haben schon im Theologiestudium so etwas wie ein geistliches Wetterleuchten gespürt. Aber wir erlebten die Kirche noch in ihrer Vergangenheitsform, in der die heilige Messe vom Priester in lateinischer Sprache und mit dem Rücken zur Gemeinde zelebriert wurde. Das kann sich heute niemand mehr vorstellen. Das war für uns junge Priester belastend. Wir warteten brennend darauf, die Liturgie in deutscher Sprache feiern zu können, was dann mit dem von Papst Johannes XXIII. 1962 eröffneten 2. Vatikanischen Konzil auch gegen den Widerstand vieler älterer Priester Wirklichkeit wurde. Damals konnten wir in unserer Muttersprache die Herzen der Menschen für das Evangelium öffnen. Auch heute bleibt es eine theologische Herausforderung, die Frohe Botschaft den Menschen in einer zeitgemäßen und verständlichen Sprache zu vermitteln.
Neues Ruhr-Wort: Im Vergleich mit der Zeit zuvor: Wie hat das Konzil das Priesteramt verändert?
Grave: Wir erlebten als Priester eine Hinwendung zum Volk Gottes und wir erlebten Laien, die ihre eigene Verantwortung spürten und wahrnahmen. Wir haben damals als Priester und als Laien erkannt, wie wichtig die Ökumene und die Erkenntnis war, dass die Kirche und ihre Theologie nicht nur eine Angelegenheit für Spezialisten sein darf.
Neues Ruhr-Wort: Was kann die Kirche aus dieser Aufbruchzeit heute lernen?
Grave: Der Zeitfaktor ist nicht entscheidend für die Prägung der Kirche durch die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wir tun auch heute gut daran, uns an seinen Dokumenten zu orientieren und aus dieser Inspiration heraus auch die Linien für die Zukunft der Kirche festzulegen. Papst Franziskus steht in der Tradition dieses Konzils. Er ist der richtige Mann zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Und ich kann nur hoffen, dass wir noch lange Freude an ihm haben werden.
Neues Ruhr-Wort: Wie beurteilen Sie die Lage der Kirche von heute, und in welche Richtung muss sich die Kirche von morgen entwickeln?
Grave: Jeder sieht, dass die Kirche und ihre Lage reformbedürftig ist. Wer heute als Laie oder als Priester Verantwortung für die Kirche übernimmt, muss wissen, dass er sich von einer Kirche der Zukunft ergreifen und umwandeln lassen muss. Dies wird eine Kirche sein, in der sich Laien und Priester von einer priesterzentrierten Gemeinde verabschieden und mehr Verantwortung übernehmen beziehungsweise abgeben müssen. Wir können nicht auf der Stelle stehen bleiben. Wir müssen den Status quo verändern und dürfen alte umstrittene Positionen nicht für die Zukunft festschreiben.
Neues Ruhr-Wort: Was meinen Sie damit?
Grave: Die Kirche muss noch mehr als heute zu einer geschwisterlichen und solidarischen Kirche werden, in der die katholische Soziallehre nicht nur verkündet, sondern praktiziert wird. Die Kirche muss ein sozialer und jugendlicher Ort sein und werden. Als Priester und Laien müssen wir uns gemeinsam auf den Weg machen und uns bewegen. Wir dürfen nicht nur unsere Position sichern. Wir müssen mit unserem Wissen und unseren Möglichkeiten Menschen eine Perspektive geben, die jetzt keine Perspektive haben und am Rande der Gesellschaft leben. Dafür brauchen wir aber auch gute Beispiele aus der Wirtschaft und aus der Politik.
Neues Ruhr-Wort: Wie sehen Sie das Priesteramt der Zukunft?
Grave: Unsere priesterliche Situation, in der immer weniger Priester immer größere Gemeinden betreuen müssen, kann so nicht bleiben. Die zölibatäre Lebensform der katholischen Priester, die etwas für sich hat, kann nicht der alleinige Weg in die Zukunft sein. Wir müssen als Kirche auch über andere Formen des priesterlichen Wirkens nachdenken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der zölibatäre Lebensweg in Zukunft der einzige Weg zum Priesteramt sein wird. Wir müssen das Priesteramt für weitere Formen öffnen. Ich kann mir auch lebenserfahrene verheiratete Männer als Priester vorstellen. Auch die Diskussion über Frauen im Priesteramt halte ich für eine gute Position. Wir dürfen es der Kirche nicht antun, sie von neuen Formen des Priesteramtes abzuschneiden.
Information: Das Interview wurde von der unabhängigen katholischen Wochenzeitung "Neues Ruhr-Wort" geführt und DOMRADIO.DE zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.