Aus dem Atelier von Dan Tschanz im schweizerischen Wettingen dringt ein Surren. Ein Mann auf einer Liege lässt sich gerade mit feinsten Nadeln und flüssiger Tinte ein Tattoo in die Brust gravieren: ein geflügeltes Kreuz. Tschanz ist spezialisiert auf Motive aus der Welt der Religion.
Tattoos von Jesus, Maria, Engeln und Kreuzen sind derzeit sehr gefragt; die Kundschaft wächst. "Darunter sind Banker, Pfarrer oder Lehrer", so der Schweizer. "Tätowieren lassen sich längst nicht mehr nur Rocker oder Leute am Rande der Gesellschaft, wie es früher war."
"Glaube, der unter die Haut geht"
Weshalb aber ist es heute so attraktiv, sich mehrere Stunden und unter Schmerzen großflächige, oft mehrfarbige Bilder auf den Körper stechen zu lassen? Der Leipziger Philosoph Christoph Türcke erklärt es so: Angesichts einer emotional aufgeladenen Gesellschaft gebe es immer mehr Menschen, die nach der Maxime leben: Du musst dich selbst zum Bild machen. Der grassierende Selfie- und Influencer-Wahn habe diese Entwicklung noch verstärkt, so Türcke.
Michael Goldberg schreibt in seiner Masterarbeit "Glaube, der unter die Haut geht": Das Tattoo solle Menschen an einschneidende Ereignisse in ihrer Lebensgeschichte erinnern, etwa den Tod eines Angehörigen, die Geburt eines Kindes oder die eigene Heirat. Auch könne diese besondere Körperzier für eine Überwindung von Krisen stehen; andere versprechen sich von ihrem Tattoo Schutz und Begleitung im Alltag. Und nicht zuletzt bekennen sich viele mit religiösen Motiven zu ihrem Glauben - allerdings nicht unbedingt zur Institution Kirche.
Wunden schlagen
Der Schritt, sich unter die Nadel zu legen, kostet auch Mut, hält der Autor Markus Ansgar Friedrich fest. "Der zu Tätowierende passiert die Schwelle des Tattoo-Studios und überwindet auch eine innere Schwelle, entscheidet sich, bereitet und vollzieht einen Schritt in ein verändertes und unumkehrbares Körperbild hinein", schreibt er im "Magazin für Theologie und Ästhetik".
Im Atelier von Dan Tschanz findet sich Fachliteratur zu seinem Lieblingsthema. "Der Begriff 'Tattoo' kommt von 'Tatau', dem tahitianischen Wort für 'Wunden schlagen'", weiß der Wettinger, der sein Handwerk in den 90er Jahren in Ostdeutschland erlernte. Unter den ersten Christen galten Tätowierungen als Erkennungszeichen.
Die Zeichen Jesu
Sie trugen die Initialen Christi in Form des "X" oder "I.N.", oder auch einen Fisch, ein Kreuz oder ein Lamm auf der Stirn. Umgekehrt wurden zweifelnde Christen durch Tattoos gebrandmarkt. Im Buch Levitikus heißt es unter den kultischen Geboten: "Für einen Toten dürft ihr keine Einschnitte auf eurem Körper anbringen, und ihr dürft euch keine Zeichen einritzen lassen."
Allerdings lässt ein Zitat aus dem Brief an die Galater vermuten, dass Paulus tätowiert war: "In Zukunft soll mir niemand mehr solche Schwierigkeiten bereiten. Denn ich trage die Zeichen Jesu an meinem Leibe". Wissenschaftler nehmen weiter an, dass Papst Hadrian I. bei der Synode von Calcuth 787 im britischen Northumberland Christen das Tätowieren untersagte. Andererseits lassen sich Pilger seit Jahrhunderten nach Erreichen ihres Ziels tätowieren.
Glaube, Liebe und Hoffnung
An Orten wie Bethlehem hat dieser Brauch Tradition. Wem die Religion wirklich unter die Haut geht, der sucht das Tattoo-Studio von Walid Ajasch auf. Der katholische Palästinenser hat sich auf christliche Bildthemen und Bibelverse spezialisiert. Koptische Christen lassen sich bei ihm ein Kreuz auf die Hand oder den Unterarm tätowieren.
Dass christliche Tattoos beileibe nicht immer für Religiöses stehen, zeigen Bilder sowjetischer Häftlinge, die Tattoos mit Jesus oder Maria tragen. "Das Madonnen-Motiv kann für die Loyalität zu einem Clan stehen", erläutert Arkady Bronnikov, Russlands führender Experte für Tattoo-Deutung. Und wer Kreuz-Tattoos auf den Knien trägt, will zeigen, dass er sich vor niemandem beugt.
Umgekehrt drückt sich der Glaube nicht immer durch die klassische Bildsprache aus. Für die Studentin Cornelia S., eine von Dan Tschanz' Kundinnen, haben Anker, Herz und Kreuz auf ihrem rechten Schulterblatt eine klare Botschaft: "Sie stehen für Glaube, Liebe und Hoffnung."