Er trägt eine Apple-Watch, spielt E-Bass und zeigt auf seinem Handy stolz ein Wohnzimmer-Foto von sich und dem emeritierten Papst Benedikt XVI. im Januar. Was auch immer man für Vorstellungsklischees von einem orthodoxen Rabbiner hat, Zsolt Balla entspricht ihnen nicht. Der 39-jährige Ungar ist seit Jahresbeginn neuer Landesrabbiner von Sachsen. Das Amt war seit 2012 vakant. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihm am Dienstag in Leipzig, wo er seit zehn Jahren als Gemeinderabbiner tätig ist, über seinen neuen Job und das Bild von Juden in der Öffentlichkeit.
KNA: Herr Rabbiner Balla, wie ist die jüdische Gemeinschaft in Sachsen inzwischen aufgestellt?
Zsolt Balla: Wir sind etwa 2.800 Juden in den drei Gemeinden in Dresden, Leipzig und Chemnitz. Eigentlich haben wir ein sehr aktives Gemeindeleben, aber wie auch andere Religionsgemeinschaften müssen wir überlegen: Wie bekommen wir es hin, dass unser religiöses Leben blüht und auch für Jüngere attraktiv ist.
KNA: Haben Sie die Lösung?
Balla (lacht): Nein. Ich glaube, die hat noch keiner gefunden. Aber ich denke, es ist wichtig zu vermitteln, dass unsere religiösen Werte auch heute im Alltag eine große Relevanz haben und uns helfen, uns zu orientieren und Entscheidungen zu treffen. Ich habe den Eindruck, dass es heutzutage vielen Menschen schwer fällt, einen Fokus für ihr Leben zu finden. Religion kann da Struktur und Orientierung geben.
KNA: Der größte Teil der Juden in Sachsen ist aus Osteuropa, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, zugezogen. Inwieweit sind sie inzwischen integriert?
Balla: Ich denke, sehr gut. Für sie waren die jüdischen Gemeinden die erste Anlaufstelle, als sie ab den 1990er Jahren nach Deutschland kamen. Und die Gemeinden haben einen großen Teil dazu beigetragen, diese Menschen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Wenn ich auf die nachfolgende, nun schon in Deutschland geborene Generation schaue, ist das auch gut gelungen.
KNA: Seit 2012 gab es keinen Landesrabbiner in Sachsen - wie fiel Ihnen jetzt das Amt zu?
Balla: Als Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegel damals in Rente ging, war es so, dass gleichzeitig jede unserer drei Gemeinden einen eigenen Rabbiner bekam. Damit kamen alle gut zurecht. Doch als jetzt die Rabbinerstellen in Dresden und Chemnitz vakant wurden, kam das Thema neu auf. Und so berief mich das Präsidium des jüdischen Landesverbands Sachsen zum Landesrabbiner. Meine Aufgabe ist jetzt hauptsächlich Koordination und Networking. Ich muss schauen, was die Gemeinden brauchen für ein blühendes jüdisches Leben hier. Aber ich ersetze nicht die derzeit fehlenden Gemeinderabbiner.
KNA: Bundesweit steigt die Zahl der antisemitischen Angriffe wieder, auch in Sachsen - wie wirkt sich das auf das jüdische Gemeindeleben aus?
Balla: Das ist sehr schwer zu sagen. Klar, es gibt Ängste. Aber das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Ich finde auch nicht die reine Zahl der Übergriffe entscheidend. Aber es ist durchaus so, dass plötzlich Dinge scheinbar wieder salonfähig werden, die ganz sicher nicht salonfähig sind, sondern antisemitisch. Das ist ein Problem.
KNA: Sachsen hat jetzt mit Thomas Feist erstmals einen Landesbeauftragten für das jüdische Leben bekommen.
Balla: Das war eine sehr gute Entscheidung der Landesregierung. Vor allem finde ich die gewählte Amtsbezeichnung gut, dass es nicht "Antisemitismus-Beauftragter" heißt.
KNA: Warum?
Balla: Dann wäre der Fokus rein negativ, rein auf Judenfeindlichkeit. Jüdisches Leben ist aber viel mehr. Bei Judentum denken die meisten Menschen in Deutschland nur an Holocaust und Antisemitismus. Ich glaube, es ist sehr wichtig, in der Gesellschaft ein größeres Bewusstsein dafür zu schaffen, was jüdisches Leben heute sonst noch ausmacht. Das sehe ich auch als eine meine Aufgaben: Jüdisches Leben muss ein selbstverständlicherer Teil der Gesellschaft werden!
KNA: Was heißt das konkret?
Balla: Koscheres Essen in Krankenhäusern sollte kein Problem sein. Jüdischer Religionsunterricht an Schulen sollte möglich sein. Es sollte jüdische Militärseelsorger geben. Für jüdische Feiertage möchte ich nicht jedes Mal extra eine Schulbefreiung für meine Kinder beantragen müssen.
KNA: Denken Sie, dass der neue Landesbeauftragte für das jüdische Leben Ihnen bei der Umsetzung helfen kann?
Balla: Auf jeden Fall! Jetzt habe ich einen konkreten Ansprechpartner auf politischer Ebene, um die Bedürfnisse der jüdischen Gemeinden hier vor Ort vorzutragen und mit ihm nach Wegen zu suchen, damit jüdisches Leben hier wachsen und weiter aufblühen kann. Insofern teile ich auch nicht die Kritik von manchen, die sagen, das sei doch alles nur Symbolpolitik, solche Landesbeauftragten einzusetzen.
KNA: Es gibt immer weniger Zeitzeugen des Holocaust. Was denken Sie, wie das die deutsche Gedenkkultur verändern wird?
Balla: Deutschland ist heute auf der richtigen Seite der Geschichte, und das bleibt hoffentlich auch in Zukunft so. Der zeitliche Abstand zum Holocaust kann Vor- und Nachteile haben. Selbstverständlich ist es ein riesengroßer Nachteil, dass die Generation der Holocaust-Überlebenden uns bald nicht mehr davon erzählen kann. So verlieren wir das Gefühl dafür, dass der gruppenbezogene Hass und die Ausgrenzung, die wir heutzutage beobachten, Parallelen zur NS-Zeit haben. Auf der anderen Seite empfinde ich den zeitlichen Abstand zum Holocaust auch als etwas Befreiendes, das es uns leichter macht, gemeinsam in die Zukunft zu gehen.
Das Interview führte Karin Wollschläger.