DOMRADIO.DE: 100 Jahre Bund ND (Neudeutschland): Welches Potenzial sehen Sie darin für Kirche, Gesellschaft und Politik in der heutigen Zeit?
Walter Kasper (Emeritierter Kurienkardinal): Die Kirche braucht vor allem Menschen, die sich engagieren, die sich aber auch kritisch mit den Zeitströmungen auseinandersetzen, das Positive aufgreifen und selber in der Kirche Verantwortung übernehmen. Das kann man nicht einfach dem Klerus, den Bischöfen und dem Papst zuschieben. Das muss vor Ort geschehen.
Wir haben das damals als Jugendliche in unserer Weise, in unserer Zeit gemacht. Das muss heute wieder geschehen. Es kommt sehr entscheidend darauf an, dass junge Menschen das Heft in die Hand nehmen.
DOMRADIO.DE: Vereine und Verbände haben heutzutage immer größere Schwierigkeiten, eine Bindungskraft zu entfalten. Welche Möglichkeiten sehen Sie gerade bei kirchlichen, katholischen und christlichen Verbänden, hier Menschen zu erreichen, die vielleicht etwas weiter weg von diesem ganzen Geschehen sind?
Kasper: Eigentlich ist ND kein Verband, sondern eine Gemeinschaft. Das ist schon ein Unterschied. Wir haben uns nicht primär als Institution verstanden, sondern als Gemeinschaft, die wir selber in die Hand genommen haben. Das kann junge Menschen ansprechen nach dem Motto: "Du kannst selber etwas tun. Du darfst selbst mitbestimmen. Du kannst es mit entwickeln."
Und ich glaube diese Spontaneität, diese Bereitschaft, dass aktiv Verantwortung übernommen wird, kann junge Menschen anziehen. Kirche ist nicht etwas Vorgegebenes, was ihnen übergestülpt wird, sondern etwas, was sie selber sind und selber mitgestalten können.
DOMRADIO.DE: Sie sind in Ihrer Zeit als Kurienkardinal weltweit sehr viel herumgekommen. Ist denn dieses ausgeprägte Verbands- und Gemeinschaftswesen, was wir hier in Deutschland haben, auch in anderen Breiten der Erde existent?
Kasper: Das gibt es schon. In Italien hat die Katholische Aktion eine große Rolle gespielt. Aber die Verbände im institutionellen Sinne sind auf dem Rückgang - eigentlich überall, aber zumindest in Europa.
Aber Gemeinschaften bilden sich, wo Menschen einfach unter sich zusammenhalten und gemeinsam etwas bestimmen und sich nicht einfach etwas institutionell vorgeben lassen. Das scheint mir heute wichtig zu sein.
Es gibt ja heute auch das Phänomen der Vereinsamung. Nicht nur bei alten Menschen, sondern auch bei sehr vielen Jugendlichen. Sie brauchen Gemeinschaft und müssen von dort her Orientierung und Halt bekommen.
DOMRADIO.DE: Wir haben in der jüngeren Vergangenheit viel von der Stellung der Frau in der Gesellschaft, aber auch in der Kirche gehört. Am kommenden Montag feiern viele Frauenverbände den "Tag der Diakonin". Sehen Sie da Bewegung in dieser Frage? Sie waren früher mal auch so eine Art Galionsfigur für diese Frage um den Diakonat der Frau. Jetzt ist es von ihrer Seite etwas stiller geworden. Wie sieht es da im Augenblick bei Ihnen aus?
Kasper: Die Frage ist besonders stark in Deutschland im Fokus. In Italien sehe ich das eigentlich nicht in der gleichen Weise. Das ist nach Ländern sehr unterschiedlich. Die Frauen sind ja weitgehend diakonisch tätig. Das soll auch kirchlich anerkannt werden. Ob es die Diakonen-Weihe sein wird, kann ich nicht voraussagen. Darum ist es etwas still geworden. Das ist wahr.
Aber man sollte sich auch nicht auf diese Frage allzu sehr konzentrieren und fixieren. Dass Frauen in der Kirche eine Rolle spielen, ist klar. Ich habe immer schon als Bischof gesagt: "Ohne Frauen wäre jede Pfarrei morgen tot."
DOMRADIO.DE: Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Europawahl. Auch im Bund Neudeutschland sind Politik und Radikalisierung in der Gesellschaft immer mal wieder thematisiert worden. Jetzt ist von der Internationalen Theologen-Kommission des Vatikan eine Schrift herausgegeben worden. Diese umfasst 37 Seiten, wo auch Radikalisierung in der Religion unter anderem in die Verantwortung des weltanschaulich neutralen Staates gestellt wird. Haben Sie von diesem Papier schon gehört?
Kasper: Ich habe nur davon gehört, es aber noch nicht gelesen. Ich habe es erst jetzt im Internet gefunden.
Natürlich ist die Radikalisierung heute ein großes Problem. Gerade hier braucht man junge Menschen, die ihre Identität und Überzeugung haben - aber eine offene Identität. Die Bereitschaft zuzuhören, zu lernen und miteinander zu kooperieren. Davon hängt die Zukunft in Deutschland, davon hängt die Zukunft der Kirche und davon hängt vor allem hier in Europa ganz entscheidend ab, dass wir zu einem vernünftigen, gegenseitigen Miteinander in der Gesellschaft kommen - mit unterschiedlichen Positionen auch mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.