Als die ersten Indigenen am Dienstag ihre Zelte nahe dem Kongress aufschlugen, waren sie überrascht. Nichts war zu sehen von den Spezialeinsatzkräften der Polizei und des Militärs, die eigens "zum Schutz des Regierungsviertels" abgestellt worden waren. Ob die Regierung das Treffen der indigenen Völker Brasiliens vergessen hatte?
Gewalt und Ausbeutung
Doch bald schon bauten sich berittene Einheiten sowie schwer bewaffnete Fußtruppen vor den Ureinwohnern auf. Mehrmals in der Geschichte des seit 15 Jahren alljährlich in Brasilia stattfindenden Protest-Camps "Terra Livre" (Freies Land) war es zu gewaltsamen Zusammenstößen gekommen.
Seit Januar ist mit dem Rechtspopulisten Jair Messias Bolsonaro ein Präsident im Amt, der die Indigenenreservate für die wirtschaftliche Ausbeutung öffnen will. Bolsonaro hatte das Treffen bereits kritisiert. "Wer bezahlt für dieses Treffen? Sie, liebe Steuerzahler. Diese Verschwendung von Steuergeldern wird unter unserer Regierung aufhören." Dabei fließen gar keine Steuergelder in den Protest.
Bolsonaros Verhältnis zu den Indigenen ist gespannt. Er werde ihnen "keinen Millimeter" Land mehr zuzusprechen, sagt er gerne. Noch gibt es keine konkreten Gesetzesinitiativen der Regierung. "Doch Bolsonaro ist bereits in den indigenen Dörfern angekommen", sagte Cleber Buzatto, Generalsekretär des katholischen Indigenen-Missionsrates Cimi der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Seit seinem Amtsantritt habe die Zahl der illegalen Besetzungen indigener Gebiete durch Farmer, Holzfäller und besonders Goldsucher zugenommen.
Illegaler Handel wächst
"Auch der illegale Handel mit Grund und Boden wächst", so Buzatto. Durch den Kurs des Präsidenten fühlten sich viele legitimiert, in die Reservate einzufallen. "Das ist natürlich illegal und zudem gefährlich. Denn in den Gebieten leben oft isolierte Gruppen, und die Gefahr von Konflikten sowie der Verbreitung von Krankheiten ist groß."
Derzeit sind die für die indigenen Belange zuständigen Behörden weitgehend paralysiert. Während die Indigenenbehörde Funai von Bolsonaro entmachtet wurde, fehlt der für die gesundheitliche Betreuung der rund 900.000 Ureinwohner zuständigen Behörde das Geld. Man will die Kommunen einspannen, doch deren Kassen sind noch leerer.
Am Mittwoch hatten die Indigenen vor dem Obersten Gericht eine Mahnwache abgehalten. Das Gericht entscheidet, ob ein Anspruch nur auf die beim Erlass der Verfassung 1988 besetzen Gebiete besteht oder auch auf traditionelle Siedlungsgebiete. Unter der Militärdiktatur (1964-1985) waren Völker zwangsumgesiedelt worden.
Sollte das Gericht auf dem Status quo von 1988 beharren, könnten sogar bereits den Indigenen zugesprochene Gebiete wieder entzogen werden. "Diese Entscheidung wird Einfluss auf alle Prozesse der Landvergabe an Indigene in ganz Brasilien haben", so Buzatto.
Zusage des Parlamentspräsidenten
Parlamentspräsident Rodrigo Maia sagte den Indigenen zu, sich gegen die von Bolsonaro angeordnete Entmachtung von Funai einzusetzen. Die Behörde war aus dem Justizministerium ausgegliedert und dem Ministerium für Menschenrechte, Familie und Frauen zugeschlagen worden. Zudem entscheidet nun das Agrarministerium über die Landzuteilungen. Die dort dominierende Agrarlobby wünscht sich eine Öffnung der Reservate für die Agrarproduktion.
Seit Bolsonaros Wahlsieg im Oktober bemühten sich die Indigenenorganisationen vergeblich um direkten Kontakt mit der Regierung, so Buzatto. Stattdessen versuche die Regierung, die Front der Indigenen aufzubrechen, indem man das Gespräch mit einzelnen Vertretern suche. "Das sehen wir als Versuch der Spaltung der Indigenen", so Buzatto. Auch Cimi sowie internationale Nichtregierungsorganisationen werden von der Regierung geschnitten. Man wirft ihnen Einmischung in innere Angelegenheiten vor.
Vor einigen Tagen hatten 600 europäische Wissenschaftler die EU aufgefordert, den Handel mit Brasilien zu überdenken. Sollte Bolsonaro die Indigenengebiete und die dort noch intakte Natur nicht schützen, müsse man Konsequenzen ziehen, so die Forderung. In Brasilia wird auch das als Einmischung aufgefasst werden. So werden die Fronten wohl eher weiter erstarren. Immerhin endete das Protest-Camp am Freitag friedlich.