Begegnungen sollen antisemitische Vorurteile abbauen

Gespräche über Kippa, Schabbat und Weihnachten

Nur 0,25 Prozent der Deutschen sind jüdischen Glaubens. Viele wissen daher nur wenig über das Judentum, was unter Umständen Ressentiments schüren könnte. Das wollen Aktionen wie "Likrat" oder "Rent a Jew" ändern.

Autor/in:
Nadine Vogelsberg
Männer mit Kippa / © Markus Nowak (KNA)
Männer mit Kippa / © Markus Nowak ( KNA )

Als die Schüler der 6c der Kölner Kaiserin-Augusta-Schule das jüdische Lied "Schalom Alejchem" anstimmen, ist Sonja überrascht. Sie kennt das Lied, hatte aber nicht erwartet, es von Schülern zu hören, denen sie das Judentum näherbringen will. Sonja ist Jüdin und macht gerade ihr Abitur an dem städtischen Gymnasium. Doch heute übernimmt sie selbst die Rolle der Lehrerin und beantwortet die Fragen der Elf- bis Zwölfjährigen.

"Likrat"-Projekt des Zentralrat der Juden

"Ich finde, man merkt den Antisemitismus wieder in Deutschland, und es ist eine super Möglichkeit, vorzubeugen", sagt die Achtzehnjährige über ihre Teilnahme am "Likrat"-Projekt. Dieses Programm des Zentralrats der Juden in Deutschland bringt nicht-jüdische Schüler mit Juden in Kontakt.

Das sagt auch der Name: "Likrat" kommt aus dem Hebräischen und bedeutet "auf einander zu". Durch den Austausch sollen Vorurteile abgebaut werden. Sonja hat sich in vier Seminaren zu Themen wie Judentum, Israel, Rhetorik und Kommunikation zur sogenannten "Likratina" ausbilden lassen. Seit 2017 ist sie dabei, rund zehn Einsätze hat sie schon hinter sich.

Nun sitzt sie mit der 6c im Stuhlkreis zusammen, an den Wänden hängen Benimmregeln und Englisch-Grammatik. Sonja bittet die Kinder zu berichten, was sie schon über das Judentum wissen. Die meisten haben eine Ahnung vom Holocaust, obwohl das Thema im Unterricht noch nicht besprochen wurde. Aber auch von gegenwärtigen Übergriffen auf Juden in Deutschland haben sie gehört.

Die Kinder bewegt Alltägliches wie Philosophisches: Ob Sonja Weihnachten feiere oder wie Diskriminierung gegenüber Juden im christlichen Mittelalter überhaupt entstanden sei, wird die Achtzehnjährige gefragt. "Das macht doch keinen Sinn", finden die Schüler angesichts der Tatsache, dass Jesus selbst jüdisch gewesen sei. Die "Likratina" verweist darauf, dass schon im Mittelalter eine Minderheit gesucht wurde, "der man etwas anhängen kann". Ein Thema, dass die Schüler bewegt und eine lebhafte Diskussion hervorruft. Zu einer zufriedenstellenden Antwort kommen sie nicht.

Authentisches Bild des jüdischen Alltagslebens vermitteln

Sonja erklärt derweil verschiedene jüdische Feiertage und dass sie selbst kein Weihnachten feiere. Als Kind habe sie das allgegenwärtige Weihnachtsfest fasziniert, aber damals habe sie die Unterschiede zwischen den Religionen noch nicht richtig begriffen. Die Kinder haben viele Fragen, lassen sich die hebräische Sprache und Schrift erklären. Auch wollen sie wissen, was eine Kippa ist - und was der Papst mit dem Judentum zu tun habe, sehe seine Kopfbedeckung einer Kippa doch recht ähnlich. Nicht jede Frage kann Sonja beantworten.

Sie will ein authentisches Bild des jüdischen Alltagslebens vermitteln, ist aber keine studierte Theologin. Auch Angriffen war sie nicht ausgesetzt.

Die Klasse sei sehr wissbegierig, bestätigt Katja Rothstein, die Klassenlehrerin der 6c. Sie hat durch jüdische Schüler am Gymnasium von dem Projekt erfahren und gleich zwei "Likratinas" eingeladen. "Es ist eine tolle Möglichkeit, um präventiv zu arbeiten", sagt sie. Sie nehme zunehmend antisemitische Probleme in der Gesellschaft wahr. So habe sie bereits gehört, dass "Du Jude" auf dem Schulgelände als Schimpfwort verwendet worden sei. Dabei strebt das Gymnasium das Siegel "Schule gegen Rassismus" an. "Ich möchte, dass wir als Schule schon früh ansetzen", erklärt sie.

Projekt "Rent a Jew"

Etwas später als "Likrat" setzt das Projekt "Rent a Jew" an. Das Konzept ist ähnlich - durch Begegnungen sollen Vorurteile abgebaut werden. Allerdings sind die "vermieteten" Juden im Gegensatz zu den Likratinos Erwachsene und besuchen Bildungseinrichtungen aller Art, nicht nur Schulen. Die Initiative ist 2014 in München entstanden.

Und: Sie soll provozieren, stellt der ehrenamtliche Mitarbeiter Barei Efraim Sarwar von der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf klar. "Kommt zu uns, bei Interesse sind wir da", sagt er bei einer Veranstaltung in Leverkusen über das Projekt. "Es geht darum, in Kontakt zu treten."

Und so sitzen er und seine Kollegen der Initiativen "Rent a Jew" regelmäßig mit neugierigen Nicht-Juden aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen und beantworten Fragen. Oft zum alltäglichen jüdischen Leben, zu Speisevorschriften oder Hochzeitsriten. Da ist Sarwar bestens vorbereitet, meist bringt er Kleidung und koschere Süßigkeiten mit, so dass seine Zuhörer schauen, anfassen und probieren können. Aber es entstehen auch handfeste Debatten, etwa über die Politik Israels.

Bei seinem Engagement hat Sarwar durchaus Erfolgserlebnisse. So meldete sich unmittelbar nach einem seiner Vorträge ein Schüler bei ihm, der ihm euphorisch für die Erläuterungen dankte - der Betreffende war vor der Debatte alles andere als positiv eingestellt.

Sarwar glaubt, dass er "zumindest kurzfristig" einen Unterschied im Denken der Menschen bewirken kann. Wie es langfristig aussieht, das ist eine andere Geschichte, weiß auch Sarwar.

Die meisten Lehrer, die am "Likrat"-Projekt teilgenommen haben, seien begeistert und zudem erstaunt, wie viel eine solche Begegnung bei ihren Schülern erreiche, so der Zentralrat der Juden in Deutschland.

Rund 100 "Likratinos" gebe es derzeit, weitere 50 seien in Ausbildung. Viele Möglichkeiten, ebenso wie Sonja kleine Veränderungen zu bewirken.


Quelle:
KNA