Ein dämmriger, kaum beleuchteter Raum mit grauem Teppichboden und zwei Stufen am Rand, darauf 20 Menschen. In der Mitte steht ein zwei mal ein Meter großer, türkisfarbener Holzblock, auf dem das Modell eines mittelalterlichen Klosterbezirks thront.
Präsentiert wird im Stiftsbezirk von St. Gallen ein einzigartiges Stück mittelalterlicher Geschichte - der originale St. Galler Klosterplan. Die multimediale Inszenierung beginnt mit einem kurzen Film, den zwei Beamer an eine Wand projizieren. Der Film erzählt die Geschichte eines Jungen, der mit sechs Jahren in das Kloster muss und dort bis zum Tod ein enthaltsames Mönchsleben führt.
Außerdem zeigt das Video eine dreidimensionale Animation des Plans. Dabei wachsen aus dem flachen Pergament mit dem Klosterplan gläserne Strukturen, die Häuser, Ställe und eine Kathedrale darstellen.
Nach zehn Minuten dann der Höhepunkt der Schau: Die Abdeckung des Holzblocks fährt nach oben, an ihrer Unterseite sind Lichter montiert. Sie leuchten jetzt auf den 1.200 Jahre alten Klosterplan.
20 Sekunden für einen 1.200 Jahre alten Plan
Weil sich das Pergament wellt, entstehen auf dem Plan Schatten und verhüllen Teile, ein 3D-Effekt entsteht. Nach 20 Sekunden endet das kleine Spektakel, die Platte senkt sich wieder ab.
Dauerhaft darf das empfindliche Pergament nicht dem Licht ausgesetzt sein, das würde es zerstören. Daher entwickelten Experten die Idee der in die Videoshow eingebetteten 20-Sekunden-Präsentation. "Neue Berechnungen haben deutlich gemacht, dass das Pergament dadurch keinen Schaden nimmt. Selbst wenn wir diesen Ausstellungsmodus für die nächsten 200 Jahre fortführen", so Bibliothekschef Cornel Dora.
Kein Bauplan, sondern ein Konzept
Der Klosterplan besteht aus fünf Stücken Schafspergament, die mit Fäden zusammengenäht sind. Er besitzt die Maße 112 mal 77 Zentimeter - und gilt als weltweit ältester erhaltener Plan seiner Art und somit als Quelle, wie das Klosterleben im frühen Mittelalter aussah.
Allerdings besteht nach den Worten Doras oft die falsche Annahme über den Plan als Bauplan. Vielmehr handle es sich um ein Konzept und eine Idee, was alles zu einem Kloster gehört.
Mit roter Tinte hatte ein Mönch fünf Gärten und 45 Gebäude mit 334 Beischriften gezeichnet. Sein Name war Reginbert, der Bibliothekar des Klosters auf der Bodenseeinsel Reichenau. Er überließ sein Werk Gozbert, der in den Jahren 816 bis 837 Abt des Klosters St. Gallen war. 1.200 Jahre nach Gozbert können jetzt erstmals Besucher den Klosterplan sehen, nachdem zuvor nur historische Experten das Original untersuchen durften.
Denn am Samstag zeigt die Stiftsbibliothek nun seit 100 Tagen alle 15 Minuten für einige Sekunden das Original. Ergänzt wird die Präsentation durch eine neu konzipierten Dauerausstellung. Dora zeigt sich mit dem neuen Konzept zufrieden.
180.000 Besucher im letzten Jahr
Die Besucherzahlen stiegen im Vergleich zum Vorjahr um rund 20 Prozent. 2018 besuchten insgesamt 180.000 Menschen den Bezirk. "Doch die meisten kommen nach wie vor wegen des Barocksaals", sagt Dora. Nur jeden Fünften zieht es zum Klosterplan. Das liege auch an den Tourguides, wie Dora sagt, weil in deren Kurzführungen der Klosterplan meist fehle. Das soll sich ändern.
Einer der Besucher, die sich den Plan angeschaut haben, ist Michel Hendrickx aus dem Wallis. Er reist gerade Richtung Österreich und wollte mit seiner Frau eigentlich nur einen kurzen Abstecher in die Stadt machen. Eher zufällig stieß er auf die Ausstellung und wirkt beeindruckt. Ganz bewusst angereist ist dagegen der Benediktiner Georg Liebich: Er kam mit einer Gruppe Mönche aus dem Kloster Einsiedeln extra nach St. Gallen, weil sie alle das Stück schon immer einmal hatten sehen wollen.
Neben dem Klosterplan besitzt die Stiftsbibliothek auch eine der ältesten Sammlungen an historischen Dokumenten wie Handschriften, Urkunden, Briefe und Bücher - weshalb der Stiftsbezirk samt Bibliothek seit 1983 zum Unesco-Weltkulturerbe gehören.
Etwa 100 Kilometer vom St. Galler Weltkulturerbe entfernt setzt im badischen Meßkirch eine Initiative den Klosterplan in die Tat um. Im Freilichtmuseum "Campus Galli" arbeiten Menschen wie vor 1.200 Jahren - mit Werkzeug und Baustoffen aus dem Mittelalter, allein mit Muskelkraft. Die Bauzeit liegt bei mindestens 40 Jahren. Bislang stehen nur einige wenige Holzgebäude. Verwirklicht wurde der Klosterplan bis heute noch nie, doch auch am Campus Galli zeigt sich, dass er immer noch wirkt.