epd: Sie waren jüngst in Westafrika unterwegs und haben dort mit Entscheidern über ein Abkommen gesprochen, das Deutschland helfen könnte, die afrikanische Migration zu regulieren. Wie kann man aus der festgefahrenen Diskussion um die Rettung der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer herauskommen?
Gerald Knaus (Vorsitzender des Thinktanks "Europäische Stabilitätsinitiative"): Wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, wer ein Interesse daran hat, die Situation zu verändern und wer nicht.
Zwar ist die deutsche Debatte über Seenotrettung in den vergangenen Wochen ermutigend, aber das ist nicht überall in Europa so. Der italienische Innenminister Matteo Salvini hat stetig an Beliebtheit gewonnen wegen seiner harten Position. Es ist daher sinnlos, immer nur gesamteuropäische Lösungen und eine europäische Umverteilung der Flüchtlinge zu fordern. Man muss dort ansetzen, wo es Politiker gibt, die etwas tun wollen. Aber Tatsache ist auch: Ohne die Anrainerstaaten im Mittelmeer sind die Möglichkeiten der Bundesregierung begrenzt.
epd: Sind die Argumente, die Salvini vorbringt schlüssig - wie etwa, dass Frankreich auch Häfen öffnen oder man gerettete Flüchtlinge nach Marokko oder Tunesien bringen soll?
Knaus: Diese Argumente sind für die Mehrheit der Italiener schlüssig. Salvini kritisiert Frankreich regelmäßig. Er bekommt Moralpredigten aus Paris zu hören, während Frankreich seine Häfen nicht öffnet und die Landgrenze zu Italien besser zu kontrollieren versucht, um Menschen dort zurückzuschicken. Dass dies nicht einmal funktioniert, macht Paris nicht weniger angreifbar. In Italien hingegen ist die Zahl der Asylverfahren in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Daher hat Italien in Wahrheit kein Interesse an einer fairen Umverteilung der Flüchtlinge, denn dann müsste es mehr Flüchtlinge aufnehmen. Salvini ist auch stark, weil seine Kritiker konfus sind. Wir brauchen Seenotrettung. Und sollten doch auch die Frage beantworten, ob man gerettete Menschen woanders hinbringen kann als nach Europa, um den tödlichen Magneteffekt der EU zu reduzieren.
epd: Gibt es den oft zitierten Pull-Effekt wirklich?
Knaus: Wenn viele Menschen über Libyen und das Meer die EU erreichen, machen sich mehr auf den Weg. Und dann ertrinken mehr.
2016 haben sich sehr viele Menschen aus Afrika ihre Länder verlassen, von denen kaum einer eine Anerkennung als Flüchtling erhält. Aus Westafrika kamen in einem Jahr rund 100.000. In den letzten fünf Jahren sind allein 45.000 junge Gambier nach Europa gekommen. Das ist jeder 50. Bürger. Die, die es nach Europa schaffen, verbreiten Bilder an ihre Verwandten im Senegal, in Gambia oder in der Elfenbeinküste.
Dann machen sich die nächsten auf den Weg. In den letzten zwei Jahren ist der Zustrom aus Gambia trotzdem dramatisch zurückgegangen. Das hatte wenig mit der Seenotrettung zu tun, sondern damit, dass diese Menschen in Libyen festgehalten und misshandelt wurden und danach nach Gambia zurückgeschickt wurden.
epd: Wie sieht für Sie eine gute Lösung aus, um die afrikanische Migration zu regulieren?
Knaus: Wenn die Menschen erst einmal in Libyen sind und dann die Gelegenheit haben zu fliehen, machen sie das auch, weil dort die Bedingungen in den Lagern menschenunwürdig sind. Ziel einer klugen Politik muss es sein, dass sich Menschen nicht nach Libyen begeben.
Ein anderes Ziel sollte darin bestehen, die Menschen so schnell wie möglich aus Libyen herauszuholen und zurück in ihre Heimatländer zu schicken, wenn das geht, oder sie in andere Länder zu evakuieren, wo man Asylverfahren durchführen könnte. Die Menschen, die die libysche Küstenwache im Mittelmeer aufgreift, müssten sofort an das UNHCR übergeben werden. Das müsste die Basis einer Zusammenarbeit der EU mit Libyen sein.
epd: Wie kann man das Ziel erreichen, dass Menschen sich gar nicht auf den Weg nach Libyen machen?
Knaus: Wir brauchen realistische Einigungen mit Herkunftsländern, die im beiderseitigen Interesse sind. Gambia etwa war eines der fünf Hauptherkunftsländer in den letzten fünf Jahren von Menschen, die über Libyen und das Mittelmeer nach Italien kamen. Wir müssten mit der gambischen Regierung ein Abkommen schließen, in dem ein Stichtag festgelegt wird, ab dem die Regierung in Gambia jeden zurücknimmt, der sich auf den Weg macht. Im Gegenzug müsste sich die deutsche Regierung verpflichten, Gambier, die seit 2016 in Deutschland sind und sich integrieren, nicht abzuschieben und ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen. Die, die straffällig werden, müsste Gambia aber schnell übernehmen. Außerdem müsste Deutschland in die Entwicklungszusammenarbeit investieren. Bislang gibt es kein einziges Abkommen dieser Art.
epd: Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) wirbt für eine stärkere Zusammenarbeit mit Afrika was die Bekämpfung der Fluchtursachen angeht. Ist das für Sie nicht frustrierend, der Sie seit Jahren der Politik Vorschläge machen für eine bessere Migrationspolitik?
Knaus: Ich bin nicht frustriert, weil sich gerade viel bewegt. Immer mehr Politiker erkennen, dass es weder Massenabschiebungen in irgendein afrikanisches Land noch eine EU-Umverteilung geben wird. Gäbe es eine Einigung mit Gambia, könnte es gut sein, dass auch andere Länder ernsthaft mit Deutschland kooperieren. Wir brauchen konkrete, umsetzbare humane Migrationsdiplomatie.
epd: Das Thema Migration wird von Populisten politisch instrumentalisiert, um ein angebliches Unvermögen des Staates anzuprangern. Macht diese Tatsache eine konstruktive Migrationspolitik nicht auch zu einem politischen Minenfeld für andere Politiker?
Knaus: Ich glaube, dass hier für Politiker mit Fokus und Vision greifbare Erfolge auf dem Tisch liegen. Die Wähler haben widersprüchliche Gefühle. Sie wollen einerseits Kontrolle und andererseits nicht, dass Menschen ertrinken. Die Wähler wollen einerseits keine Rückkehr in Zeiten, als Zehntausende Menschen am Tag über die Grenzen der EU kamen, und andererseits wollen sie nicht, dass die EU mit Folterern zusammenarbeitet. Ein Konzept, das Migration auf humane Art und Weise reguliert, wäre mehrheitsfähig.
Und letztlich ist das entscheidend für unsere Demokratie: Regierungen, die gewählt werden, müssen anderen Regierungen, die auch gewählt werden, zeigen, dass man auch mit einer humanen Politik Wahlen gewinnen kann.
Das Interview führte Franziska Hein.