DOMRADIO.DE: Denken wir mal zurück, heute vor 50 Jahren sprachen die Meldungen von Straßenschlachten in Derry und Gewalt, die sich bis nach Belfast ausbreitet. Sie waren zu der Zeit gerade als junger Seminarist im Priesterseminar in Belfast. Wie haben Sie das damals alles erlebt?
Donal McKeown (Bischof von Derry): Die Konflikte waren eigentlich nicht zwischen Katholiken und Protestanten, sondern zwischen den Einwohnern eines katholischen Gebietes in Derry und der Polizei, aber nicht zwischen den beiden Konfessionen in dem Sinne. Der Staat wurde von der Polizei verteidigt und nach Jahrzehnten von Diskriminierung in der Stadt gab es eine regelrechte Explosion in den Jahren 1968/69. Ich war zu der Zeit jung und habe gedacht, das dauert vielleicht eine Woche, oder auch zwei Wochen. Wir haben aber nie gedacht, dass es noch 30 Jahre dauert.
DOMRADIO.DE: Wie war das damals auf den Straßen und was hat es für den Alltag bedeutet?
McKeown: Betroffen davon waren besonders die Menschen in den ärmsten Vierteln. Die Leute der Mittelschicht wurden kaum von den Unruhen erfasst. Die meisten Menschen auf dem Lande haben gar nichts davon gehört, höchstens im Radio. Der Konflikt war also nicht so verbreitet, nur an einzelnen Stellen, in Derry und im Westen von Belfast. Aber es war ein Konflikt um die Menschenrechte, nicht einer der Katholiken und Protestanten in dem Sinne.
DOMRADIO.DE: Das ist jetzt ein ganz wichtiger Punkt. Man hört ja immer wieder, dass es nicht unbedingt ein Konflikt ist, in dem die religiöse Überzeugung eine Rolle spielt, sondern eher die Identität, die dahinter steckt. Kann man das sagen?
McKeown: Es hat mit Identität zu tun, aber es fing mit den Menschenrechten an. In Derry hat eine Minderheit die Stadt regiert. Das hat dazu geführt, dass viele Leute sagten, wir wollen Menschenrechte in dieser Stadt. Sie wollten selbst Häuser und Arbeit und vor allem nicht vernachlässigt werden, das heißt sie wollten keine Diskriminierung der Minderheit gegen die Mehrheit. Es hat eher mit Wirtschaft und Geld zu tun, als mit der Bibel. Die IRA hat nie für die Heiligkeit des Papstes getötet und Bombenanschläge ausgeübt. Das haben sie wegen der Einheit, des Friedens und der Zukunft in Irland getan, nicht wegen der Bibel. In jedem Konflikt werden allerlei mögliche Sachen als Waffen verwendet: Identität, Kultur, Musik, Sport, und Sprache – das alles wird als Waffe verwendet. Aber im Grunde war es immer ein Konflikt zwischen denen, die meinten wir sind Iren in Nordirland und denen, die meinten, wir möchten die Verbindung zu England erhalten.
DOMRADIO.DE: 1998 gab es das Karfreitagsabkommen. Seitdem herrscht im Großen und Ganzen Frieden in Nordirland. Die Diskussion in den vergangenen Monaten rund um den Brexit ändert die Stimmung, auch der Mord an einer Journalistin in Derry im Frühjahr trägt dazu bei. Spüren Sie das?
McKeown: Die Stimmung in Nordirland ist sehr unsicher. Ich wohne hier vielleicht zehn Kilometer von der Grenze entfernt. Bis vor 20 Jahren lag die Stadt Derry am Ende einer Sackgasse. Die Diözese war und ist immer noch auf beiden Seiten der Grenze. Das Problem für uns hat eigentlich mit der Kirche nichts zu tun. Für mich als Hirte der örtlichen Kirche und für uns alle als Leiter in den verschiedenen Kirchen Nordirlands heißt es, dass wir für die ganze Insel verantwortlich sind. Die Kirchen sind nicht nur nordirische und südirische Kirche. Unsere Frage ist eigentlich, was geschieht besonders für die Schwachen und besonders bei den Ärmsten? Gibt es mehr Spannungen, wird es mehr Arbeitslosigkeit und damit mehr Hoffnungslosigkeit geben?
Diese Unsicherheit führt dazu, dass viele Leute sie gern ausbeuten möchten, um zu sagen, jetzt werden wir keine Hoffnung auf eine friedensvolle Zukunft haben. Da die Wirtschaft auf der ganzen Insel so integriert ist, wollen wir nicht zu der Lage zurückkehren, wo wir wieder mal eine Grenze mitten in der Diözese haben. Das gilt für die beiden großen Kirchen hier in Derry. Unsere Ängste haben eigentlich mit der Pastoralarbeit zu tun, nicht mit der Macht der Kirche. Besonders die jungen Leute haben wenig Hoffnung auf die Zukunft.
DOMRADIO.DE: Wenn es jetzt tatsächlich dazu kommen sollte, dass es durch den Brexit eine harte Grenze gibt, sind die Leute in Ihrem Bistum besorgt, auch aufgrund einer aufkommenden Gewalt?
McKeown: Ja natürlich. Seit dem Karfreitagsabkommen ist der Krieg schon längst zu Ende. Ich muss aber sagen, dass der Konflikt noch andauert. Weder Sinn Féin noch die IRA haben dafür gekämpft, dass Nordirland innerhalb des Vereinigten Königreichs bleibt. Sie haben ihren bewaffneten Mitgliedern gesagt, ohne Waffen können wir Irland wieder mal vereinigen. Der Konflikt um die Zukunft Nordirlands dauert immer noch an. Auch der Brexit hat dazu beigetragen: Selbst die Unionisten, also diejenigen, die sich eher englisch als irisch fühlen, meinen, vom wirtschaftlichen Standpunkt her gesehen wäre es besser, dass wir Teil von von Irland bleiben könnten, anstatt eine Kolonie von England zu sein.
Der Brexit wird eigentlich vom englischen Nationalismus geführt und hat eigentlich wenig mit den Schotten und wenig mit uns in Nordirland zu tun. Wir sind eine Kolonie. Wenn Mutti sagt: Wir wollen Europa verlassen, müssen alle ihre Kinder sagen: Ja, natürlich Mutti. Das wollen wir nicht. Wir haben viel zu viele Vorteile von dem Abkommen und dem Abschaffen der Grenze gewonnen. Wir wollen nicht dazu zurückkehren, dass bei mir hinterm Haus eine neue harte Grenze vorkommt. Das wollen viele Leute nicht, auch unter den Unionisten nicht, die sich eigentlich eher als irisch geführt haben.
DOMRADIO.DE: Was denken Sie, der Austrittstermin steht ja im Moment beim 31. Oktober. Was denken Sie, was wird passieren an dem Tag?
McKeown: Das ist eine interessante Frage. Niemand weiß, wie die Zukunft aussieht, weder die Wirtschaft, noch die Landwirtschaft, noch die Politiker. Niemand weiß, worauf man sich vorbereiten soll. Aber ich bin kein Politiker, ich interessiere mich nicht für Politik. Ich interessiere mich nur dafür, wie können wir Kirchen – protestantische und katholische Kirchen zusammen – die Rechte der Schwachen, der Armen, der Hoffnungslosen stärken. Egal was ihr am 31. Oktober macht, denkt nicht nur an euch selbst, denkt nicht nur an die Starken in London und nicht nur an das, was England gefällt, sondern denkt auch an diejenigen, die am meisten verlieren würden. Das ist unsere Rolle: mit einer prophetischen Stimme mitten in dieser Unsicherheit, die Menschen zu stärken, die das Recht auf Hoffnung und das Recht auf eine gute Regierung haben.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.