58 Jahre lang stand die Turmuhr der alten Versöhnungskirche am Mauerstreifen an der Bernauer Straße in der Mitte Berlins still. Zuvor wurde sie jedoch zu einem Symbol des Widerstands gegen die Teilung Deutschlands. Jörg Hildebrandt, der die Zeiger der Uhr aus Protest gegen den Bau der Mauer damals auf "Fünf vor Zwölf" stellte, erlebte am Mittwoch, wie die alte Turmuhr wieder zu ticken begann.
Hildebrandt: Umstellung der Uhr war Notwehr
Ihren neuen Platz hat die restaurierte Uhr im Foyer der Diakonie in Berlin gefunden. Hier soll sie als "besonderes Symbol für Versöhnung und Hoffnung" zu sehen sein, wie es bei der Enthüllung hieß. Dass das Uhrwerk ausgerechnet am 28. August 2019 wieder zu schlagen begonnen hat, ist dabei kein Zufall: Vor 125 Jahren wurde die Versöhnungskirche errichtet. Für Hildebrandt ein besonderer Tag, auch weil er das große mechanische Pendel "seiner" alten Turmuhr anstoßen durfte - genau um "Fünf vor Zwölf".
Seine Aktion damals sei "Notwehr" gewesen, sagt Hildebrandt rückblickend. Ein Zeichen dafür, die Menschen, die vom DDR-Regime aus ihren Häusern geworfen wurden, nicht zu vergessen. "Es war Empörung, Wut und Zorn, die mich dazu getrieben haben, die Uhr auf 'Fünf vor Zwölf' zu stellen. Als Sechsjähriger musste ich bereits eine Flucht erleben, und im August 1961 wurde ich in der Bernauer Straße eingemauert und meiner Freiheit beraubt", erklärt der heute 80-Jährige. "Ich war hilflos und wollte wenigstens Spuren hinterlassen."
Die Polizei wertete die Aktion als grobe Provokation
Als Sohn des Pfarrers kannte er die Uhr nur zu gut, verdiente sein Taschengeld damit, dass alle Ziffernblätter der vier verschiedenen Himmelsrichtungen immer die korrekte Zeit anzeigten. "Das war meinem Vater als altem Preußen fast wichtiger als eine gelungene Sonntagspredigt", erinnert sich Hildebrandt. Seine Aktion blieb nicht lange unbemerkt: Die Zeiger, die der Mauer zugewandt waren, wurden bald auf 12 Uhr umgestellt. "Aber es gibt ein Foto, das beweist, dass eines der Ziffernblätter noch 1980 auf 'Fünf vor Zwölf' stand", sagt er stolz.
In alten Polizeiberichten sei die Rede von einer groben Provokation gewesen, erzählt der Rentner lachend. Ihm sei verboten worden, den Turm jemals wieder zu betreten - gehalten habe er sich daran aber nicht: Schließlich hatte er jahrelang mit seiner Familie auf dem Gelände gelebt und wusste, wie er die Wachen meiden konnte.
Kirche stand fortan im sogenannten Todesstreifen
Die evangelische Versöhnungskirche, die einst das wuchtige Uhrwerk beherbergte, steht schon seit 34 Jahren nicht mehr. Das Gotteshaus, das nach der Grenzschließung am 13. August 1961 für die Gemeindemitglieder aus dem westlichen Teil Berlins nicht mehr zugänglich war, durfte zehn Tage später auch von den Kirchgängern im Osten nicht mehr betreten werden - das Gotteshaus stand nun im Todesstreifen.
24 Jahre lang nutzten Grenzsoldaten den Kirchturm als Wachposten. In der Sakristei lebten Wachhunde in Zwingern, den Altarbildern wurden die Köpfe abgeschlagen. 1985 wurde die Versöhnungskirche schließlich gesprengt, die Turmuhr zuvor jedoch ausgebaut und eingelagert. An der Stelle der alten Versöhnungskirche steht heute die Kapelle der Versöhnung, die um die Jahrtausendwende errichtet wurde.
Dass der alte Zeitmesser jemals wieder arbeiten würde, hätte Hildebrandt, einer der Mitbegründer des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB), nicht für möglich gehalten. "Nach der Kirchensprengung 1985 habe ich gar keinen Gedanken mehr daran verschwendet, es schien mir unmöglich", gibt er zu. "Dass die Uhr nun doch wieder tickt, empfinde ich als großes Glück."
Initiative "Gönn' dir eine Minute"
Und daran hat nicht nur ein Meisterbetrieb nahe Berlin seinen Anteil, sondern auch der heutige Pfarrer der Versöhnungsgemeinde, Thomas Jeutner. Auf seine Initiative hin suchte die Gemeinde unter dem Motto "Gönn' dir eine Minute" nach Spendern, die symbolisch eine oder mehrere von 720 zu vergebenden Minuten (von 0 bis 12 Uhr) erwerben und der alten Turmuhr damit ein zweites Leben schenken wollten. Rund 35.000 Euro kamen bisher zusammen.
Auch Hildebrandt hat gespendet und sich - wie könnte es anders sein - die Minuten von 11.55 Uhr bis 12 Uhr gesichert. Die ersten drei Minuten sind seinen zwei Töchtern und seinem Sohn gewidmet, die letzten beiden seiner verstorbenen Frau und sich selbst.
Von Lisa Konstantinidis