Für jede Liturgie und jedes Kirchenfest die passende Chorliteratur im Archiv zu haben – das ist der Traum von Oliver Sperling. Chormusik für Mädchen nicht als eine Art transkribierter Verlegenheitslösung, weil sie ursprünglich eigentlich für gemischte Chöre gedacht ist, sondern eigens für einen mehrstimmigen Mädchenchor und seine Besonderheiten komponiert: Kantaten, Messen, am liebsten auch ein Requiem.
Drei Jahrzehnte arbeitet der Domkantor und Leiter des Mädchenchores am Kölner Dom nun schon daran, das Repertoire seines Ensembles kontinuierlich zu erweitern – vor allem mit einer Vielzahl an zeitgenössischen Werken. Und diese Mühe zahlt sich aus. Denn längst hat der Chor ein eigenes Profil und strahlt als Kulturbotschafter der Rheinmetropole weit über Stadtgrenzen hinaus. Zur Not schreibt Sperling ein Stück, das es bislang ausschließlich für Mädchenstimmen noch nicht gibt, auch selbst: wie beispielsweise seine Johannes-Passion, die im Jahr 2000 entstanden ist oder den Liedsatz "Brot und Wein, Zeichen des Lebens…", komponiert als Pilgerlied zum Eucharistischen Kongress 2013. "Es war immer mein größter Wunsch, dass sich die über Jahre betriebene Lobbyarbeit für weibliche Kathedralchöre irgendwann mit einem umfangreichen Notenfundus und vielseitigen Kompositionen für Mädchenstimmen auszahlt", unterstreicht der 53-Jährige.
Nun feiert der Mädchenchor am Kölner Dom als zweitältester der vier Chöre am Dom – der Kölner Domchor beging im Jahr 2013 sein 150-jähriges Jubiläum – sein 30-jähriges Bestehen. Seit seiner Gründung 1989 durch Domkapellmeister Professor Eberhard Metternich hat sich der Mädchenchor, zu dem aktuell 146 Sängerinnen zählen, zu einem der renommiertesten Kathedral-Mädchenchöre Europas entwickelt. 1991 hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt – zunächst einmal gemeinsam mit dem Knabenchor – bis er sich schnell mit einem ganz eigenen Klangbild entfaltete. In den frühen Neunzigern war er noch einer der wenigen weiblichen Kathedralchöre überhaupt. Denn zu dieser Zeit war diese Form der Kirchenmusik in Deutschland traditionsbedingt noch weitestgehend Männerdomäne.
Regelmäßig zu Gast in Philharmonie und Oper
1996 übernahm Domkantor Oliver Sperling, der zuvor als Metternichs Assistent mit Domchor und Mädchenchor gearbeitet hatte, die künstlerische Leitung des Ensembles. Seitdem hat er es auf einem konstant hohen Niveau gehalten und dennoch immer weiterentwickelt; ein Engagement, das in der Vergangenheit bei den Deutschen Chorwettbewerben regelmäßig mit Preisen und Auszeichnungen belohnt wurde und zu dem Ruf des Chores als eines der Spitzenensembles deutscher Chormusik beigetragen hat.
Mit seinem spezifischen Klang – den Schwerpunkt setzt Chorleiter Sperling aus Überzeugung zugunsten von a-capella-Werken des 20. und 21. Jahrhunderts – ist der Mädchenchor regelmäßig in den Gottesdiensten und Konzerten der Kölner Kathedrale zu hören. Darüber hinaus aber sind die Sängerinnen außerdem oft in der Kölner Philharmonie, der Kölner Oper und zahlreichen anderen Kirchen, Konzertsälen und Kultureinrichtungen zu Gast. Außerdem gehören Konzertreisen in viele Länder Europas, aber auch ins entferntere Ausland wie 2005 nach Israel, 2010 nach Argentinien und 2017 nach China zu den selbstverständlichen Aktivitäten dieses Chores.
Für die Sängerinnen immer wieder Anreize schaffen
Geistliche Chormusik von Komponisten aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen bestimmt die Literatur, die Sperling für seine Sängerinnen gezielt auswählt. Dabei reicht das Spektrum von orgel-, klavier- und harfenbegleiteten Chorwerken über Stücke mit Instrumentalensemble bis hin zu großen Oratorien mit Orchesterbesetzung, wozu sich der Mädchenchor meistens mit den anderen drei Chören am Dom – dem Kölner Domchor, der Domkantorei Köln oder dem Vokalensemble Kölner Dom – zusammenschließt. Haydn, Mendelssohn und Bruckner gehören ebenso zum Repertoire wie Berlioz, Britten und Pärt. "Mir geht es darum, immer wieder auch neue Anreize für die Sängerinnen zu schaffen, die unter Umständen bis zu zehn Jahren dem Chor angehören. Da soll es nicht langweilig werden", meint der Chorexperte.
Dass nach der Gründung des Mädchenchores am Kölner Dom dieses Beispiel in den vergangenen Jahren auch an fast allen anderen deutschen Domen und Kathedralen Schule gemacht hat, darf Sperling sicher unter dem Aspekt gelungener Pionierarbeit verbuchen. Auch wenn der Musiker, selbst ehemals Domsingknabe in Essen, weiß, dass dieser Bewusstseinsbildungsprozess, Mädchen können wenigstens genauso gut sein wie Jungen und sollten demnach auch einen gleichberechtigten Platz in der Liturgie einnehmen, in der Vergangenheit gar nicht so einfach war und viel Überzeugungsarbeit nach innen und nach außen notwendig war, zumal liturgische Dienste nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwar mehr als zuvor an Laien delegiert wurden, diese aber überwiegend zunächst doch Jungen und Männern vorbehalten blieben.
"Es galt, einen kostbaren Schatz zu heben"
Die Einweihung der Kölner Domsingschule 1986 mit koedukativem Konzept erweist sich rückblickend als eine Art Grundsteinlegung des Mädchenchores, auch wenn diese Schule zunächst vor allem das Ziel hatte, Nachwuchs für den Kölner Domchor zu rekrutieren. Doch zwei Jahre später entwirft dann Domkapellmeister Metternich, der ein der Förderung der Jungen vergleichbares pastorales Angebot auch für die Mädchen schaffen will, konkrete Pläne. "Ich wollte den Mädchen ebenfalls ermöglichen, in die Liturgie hineinwachsen und im Dom auftreten zu können. Außerdem galt es, einen kostbaren Schatz zu heben und dieses wertvolle Potenzial nicht brach liegen zu lassen." Diese Rechnung ist aufgegangen. "Heute haben wir eine konstruktive Koexistenz beider Chöre, die beispielhaft ist und unsere Dommusik ungemein bereichert", betont Metternich. Trotzdem habe jeder der Chöre am Dom seine eigene klangliche Identität, die ihn unverwechselbar mache.
"Die Mädchen sind mit so viel Ernsthaftigkeit bei der Sache, dass es eine große Freude ist, miteinander zu musizieren und sich immer wieder neue Ziele zu setzen", lobt Sperling die Entwicklungsbereitschaft seines Ensembles, das nach drei Jahrzehnten auch aus der bundesweiten Chorlandschaft nicht mehr wegzudenken ist. Dabei sei Beziehungsarbeit ein ganz wesentlicher Teil dieses gemeinsamen Erfolgs. "Man muss gerne mit jungen Menschen zu tun haben und in ihnen die Begeisterung für geistliche Musik und für die Kirche wecken wollen", unterstreicht der Pädagoge. Schließlich sei die Liturgie das Fundament. Ob man dabei mit Mädchen oder Knaben arbeite, sei eher nebensächlich. "Entscheidend ist der Wunsch, sich mit besonderem Ausdruck eine musikalische Sprachfähigkeit erwerben zu wollen. Wenn dieser Wille besteht, gehört es zu den größten Glücksmomenten, der Tiefe eines Musikstückes mit viel Geduld und Fleiß allmählich immer näher zu kommen."