DOMRADIO.DE: Sie sind in Heiligenstadt aufgewachsen, im thüringischen Eichsfeld. Das war eine Art katholische Enklave im DDR-Sozialismus. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Schwester Katharina Hartleib (Franziskanerin in Olpe): Ich habe ganz viele Erinnerungen. Man muss wissen, dass ein Teil des Eichsfeldes im Sperrgebiet lag. Die DDR-Oberen hatten zur Westgrenze hin ein fünf Kilometer breites Sperrgebiet errichtet, in das niemand Fremdes reinkam, nur mit Passierschein. Die Leute standen dort noch mehr unter Kontrolle. Als Kind und junge Erwachsene hat man davon aber nicht so viel mitgekriegt.
In den Dörfern waren bestimmt 95 Prozent der Leute katholisch, und der Zusammenhalt war sehr groß, denn es gab einen gemeinsamen Feind: das waren die Roten (Kommunisten, Anm. d. Red.). Wir waren viele junge Leute in der Pfarrjugend, und wir haben uns oft getroffen, um uns über ganz viele Themen auszutauschen und abzustimmen. Von daher war es schon eine spannende Zeit, geprägt vom Kirchenjahr. Im Dorf haben die Leute geschaut, wie das mit dem Katholischsein in dieser kommunistisch geprägten Umgebung gehen kann.
DOMRADIO.DE: Sie haben gesagt, dass im Eichsfeld sehr viele Menschen katholisch sind. Zu DDR-Zeiten haben sie sich beharrlich der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) widersetzt, die versucht hat, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen. Wie kam das?
Schwester Katharina (lacht): Die Eichsfelder sind stur. Und Sturheit ist da eine ganz gute Eigenschaft. Ich glaube, sie haben über die Jahrhunderte erlebt, dass immer wieder irgendwelche Machthaber und Diktatoren versucht haben, sie von ihrem Glauben abzubringen. Sie haben sich das Ganze oft angehört - es gab natürlich auch viele Leute, die nicht gewagt haben, zu widerstehen - aber die meisten sind bei ihrem Glauben geblieben. Aus einem guten Grund. Er hatte sie über die Jahrhunderte geprägt, und er hat sie gehalten.
Das Eichsfeld war immer sehr arm. Meine Mutter hat immer gesagt: "Wenn ich meinen Herrgott nicht hätte". Und das ist, glaube ich, prägend für viele Menschen. Sie sagen: Über die Jahrhunderte konnten wir das aushalten, weil wir an diesen Gott geglaubt haben, der uns durch alle Hochs und Tiefs begleitet. Ich glaube schon, dass das eine Rolle gespielt hat.
DOMRADIO.DE: Sie hat es auch geprägt. Ihr Elternhaus war katholisch, Ihr Vater aber war in der SED. Wie ging das zusammen?
Schwester Katharina: Es ist so, wie es schon im Evangelium steht, dass der Schnitt durch die Familie geht. Wenn wir als Jugendliche gefragt haben: "Wieso gehst du da nicht raus? Oder wieso bist du da überhaupt drin?" Dann hat er immer gesagt: "Ihr habt keine Ahnung. Ich habe erlebt, wie mein Vater aus russischer Gefangenschaft nach Hause gekommen ist, und mir war klar, dass wir uns kümmern müssen. Nie wieder Krieg." Das war in den ersten Jahrzehnten auch die Ägide der SED. Dass sich das später total verändert hat, war dramatisch.
Aber man konnte nicht so einfach aus der SED gehen, wenn man Frau und Kinder hatte. Das wäre schon gefährlich geworden. Von daher haben wir uns immer mit der SED auseinandergesetzt. Allerdings muss ich sagen, dass mein Vater uns Kindern nie irgendwelche Steine in den Weg gelegt hatte. Ich war sehr aktiv in der Pfarrjugend, später in der franziskanischen Jugend. Ich bin sehr oft zu diesen Jugendtreffen gegangen und in jeden Gottesdienst, den ich erwischen konnte. Aber mein Vater hat mir nie Steine in den Weg gelegt, das hat er nie gemacht. Er ist selber Ostern und Weihnachten in die Kirche gegangen. Aber dieses latent Gefährliche war schon immer da.
DOMRADIO.DE: Sie sind dann in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) eingetreten, weil sie keine andere Wahl hatten. Aber der Jugendweihe, dem Bekenntnis zum Sozialismus, haben Sie sich verweigert. Das hatte dann auch Folgen für Sie. Wie war das?
Schwester Katharina: Katholische Jugendliche gingen nicht zur Jugendweihe. Denn das war ein Bekenntnis zum sozialistischen Staat und passte nicht zum Glauben. Auch die Bischöfe haben bei großen Wallfahrten immer wieder die Leute bestärkt, daran festzuhalten, was ihnen wichtig ist.
Ich hatte ein Abschlusszeugnis mit einem Schnitt von 1,0. Ich habe mich dann beworben, um auf die Erweiterte Oberschule zu kommen, damit ich Abitur machen konnte, bekam jedoch eine Ablehnung. Mir war klar, dass ich die Ablehnung gekriegt habe, weil ich nicht zur Jugendweihe gegangen bin. Ich muss gestehen, ich war schon beleidigt. Ich war die Beste an der Schule und ich durfte nicht Abitur machen, weil die Roten das nicht wollten. Zu der Zeit hatte ich auch böse Kämpfe mit meinem Vater, der immer gesagt hat: "Ich kann da nichts machen". Ich dachte nur: "Das ist ja toll, wenn du noch nicht mal für deine Tochter etwas machen kannst." Aber wir wussten, dass es immer wieder Dinge geben würde, die nicht gehen, weil wir katholisch sind.
DOMRADIO.DE: Hätten Sie nicht pro forma die Jugendweihe durchziehen können angesichts dieser Folgen?
Schwester Katharina: Das hätte ich durchaus tun können, aber so war ich nicht gestrickt. Mein jüngerer Bruder ist zur Jugendweihe gegangen, weil er Abitur machen wollte, ging dann aber nach der zehnten Klasse ab, weil er es doof fand. Ich wollte nicht zur Jugendweihe, nur um Abitur machen zu können. So war ich nicht gestrickt, nie.
DOMRADIO.DE: 1981 sind Sie bei den Franziskanerinnen eingetreten. Welchen Status hatten die Ordensgemeinschaften und Klöster in der DDR?
Schwester Katharina: Sie müssen wissen, dass es unter den knapp 17 Millionen Einwohnern ungefähr 6,5 Millionen Protestanten und nur 1,5 Millionen Katholiken gab. Daran gemessen war die Anzahl der Klöster und der Ordensleute sehr hoch. Einen höheren Stand gab es nur noch in Japan. Die Klöster und die Ordensgemeinschaften waren Orte, wo man sich als junger Mensch entfalten konnte. Es ging zwar auch immer mal wieder das Gerücht, dass es da auch Stasi-Spitzel gab - aber die gab es ja überall.
In den Klöstern hatte man eine Perspektive, die jenseits von jeglichen Verboten war. Die Klöster und Ordensgemeinschaften hatten zum einen dieses karitative Engagement für Menschen, um die sich der sozialistische Staat nicht gekümmert hat - der hat sich weder um Behinderte noch um Alte in wirklich guter Form gekümmert. Auch den SED- und Stasi-Bonzen war klar, dass die Pflege in katholischen Krankenhäusern die bessere ist. Sie sind dann oft da hingegangen. Es gab eine hohe Achtung vor den Orden. In den 1950er Jahren wurden sie repressiver gehalten. Aber irgendwann hat man gemerkt: Man braucht sie, und dann hat man sie in Ruhe gelassen.
DOMRADIO.DE: Wir schreiben das Jahr 1989. Sie waren knapp 30 Jahre alt, als Günter Schabowski am 9. November versehentlich die DDR-Grenzöffnung verkündete. Können Sie sich noch an den Tag erinnern?
Schwester Katharina: Ja, ich kann mich sehr gut erinnern, denn an dem Tag hatten wir einen Schwesterntag. Zweimal im Jahr trafen sich alle Schwestern unserer Gemeinschaft im Haupthaus in Oschersleben, um uns dort über Glaubens- und Ordensfragen auszutauschen. In den letzten Wochen vor dem Mauerfall gab es eine starke Unruhe im Land, auch unter uns. Das war ganz deutlich. Wir saßen gerade beim Abendessen, da klopfte es an der Tür, und es rief mich jemand ans Telefon. Das war absolut unüblich. Bei solchen Mahlzeiten wurde man eigentlich nicht gestört. Am Telefon war mein Vater dran. Das war noch unüblicher, weil wir sonst immer am 1. Januar telefoniert haben. Mein Vater sagte: "Stell' dir vor, das Sperrgebiet ist aufgehoben. Die Schlagbäume sind geöffnet, man kann rein." Da war ich völlig verdattert. Er hat wieder aufgelegt, wir haben alle unser Abendbrot beendet und die Nachrichten geschaut. Das war unglaublich.
Ich glaube, wenn wir Sekt gehabt hätten, hätten wir gefeiert. Ich habe bis tief in die Nacht Fernsehen geschaut, was auch nicht üblich war. Wir waren ganz verwirrt, weil wir immer gehofft haben, dass es mal so kommt. Aber dass es sich so rasant entwickeln würde, das konnte man nicht hoffen.
DOMRADIO.DE: Was haben Sie dann gemacht? Sind Sie zur Grenze gegangen?
Schwester Katharina: Nein, ich habe ja eine Altenheimstation geleitet, und wir waren unseren alten Leuten verpflichtet. Wir konnten nicht einfach weg. Es sind bereits einige Mitarbeiter in den Monaten vorher über die Prager Botschaft ausgereist und wir mussten schauen, dass wir die Dienste hinkriegen. Das wäre nicht gegangen, einfach loszugehen. Es hätte mich schon gereizt, aber es ging einfach nicht. Aber ich glaube, ich habe nie meinem Leben so viel Fernsehen geguckt wie in diesen Tagen.
DOMRADIO.DE: Proteste begannen ja schon in den frühen Jahren, vor allem in den Kirchengemeinden. Haben Sie mitgemacht?
Schwester Katharina: Ich kann mich an die ganz frühen Zeiten nicht erinnern. Ich weiß, dass ganz viele Menschen in den größeren Städten protestiert haben. Die Friedensgebete gab es nicht nur in Leipzig. Aber wir haben dann, soweit ich mich erinnern kann, ab 1988 an den Montagsgebeten und auch den Montagsdemonstrationen teilgenommen. Wir hatten eine Regionaloberin, die aus dem Westen stammte und sehr unruhig war, weil sie Angst um uns junge Leute hatte. Sie hatte uns gebeten, zuhause zu bleiben. Aber wir haben erwidert: Bei aller Liebe, das kannst du uns nicht verbieten, da müssen wir hin. Wir sind dann immer mitgegangen: jeden Montag und jeden Montag und jeden Montag.
DOMRADIO.DE: Sie sind dann das erste Mal in Ihrem Leben am 3. Dezember nach Westdeutschland gefahren. Wie war das für Sie?
Schwester Katharina: Das war total eigenartig. Ich kannte ja bis dahin keinen Grenzübertritt, jedenfalls nicht in Richtung Westen. Ich war mal in Polen, in der Tschechoslowakei, aber sonst nirgendwo. Es gab damals noch zwei Schwestern, die noch nie im Westen waren. Jemand hat uns mit dem Auto nach Helmstedt gebracht und von dort sind wir in den Zug eingestiegen. Es war alles total unwirklich, das kann ich nicht anders sagen.
Als ich dann in Olpe ankam und das Refektorium und die vielen Schwestern dort gesehen habe, war ich total geplättet. Wir sind dann ein paar Tage geblieben. Was mich ein bisschen erschrocken hat, war, dass die Schwestern so wenig politisch interessiert und gebildet waren. Wir im Osten waren das ja. Da kam zum Beispiel die Frage, die ich nie vergessen werde: "Du gehst wohl doch nicht wieder zurück, wo die Russen schießen?" Oh Gott, habe ich gedacht und erzählt, was im Osten läuft und um was es eigentlich geht. Es war eine sehr unwirkliche Reise.
DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie heute auf den 9. November 1989?
Schwester Katharina: Wir hatten eine alte Schwester. Die hat immer gesagt, wenn wir für die Vereinigung Deutschlands gebetet haben: "Das wird kommen und ihr werdet das erleben. Bei uns gibt es ein altes Sprichwort: Unrecht Gut gedeiht nicht und kommt nicht in die dritte Generation". Wenn man rechnet - die DDR gab es 40 Jahre - dann hatte sie recht. Für mich ist der 9. November ein unglaublicher Befreiungsschlag.
Sie müssen sich vorstellen, Klöster und Ordensgemeinschaften waren ja auch Abbilder der Gesellschaft. Bei uns wurde es auch immer enger, weil das Land immer enger wurde. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich noch in der Gemeinschaft wäre, wenn es die DDR noch ein paar Jahre gegeben hätte. Von daher war das schon eine wirkliche Befreiung.
Das Interview führte Katharina Geiger.