Lyriker, Essayist, Übersetzer, Kinderbuchautor, Herausgeber: Hans Magnus Enzensberger macht in seinem Leben vor wenigen literarischen Herausforderungen halt. "Ich bin mit meinem Beruf ganz zufrieden. Ich habe keinen Chef. Außerdem habe ich Glück gehabt. Ich bin nie eingesperrt, nie zensiert worden", sagte Enzensberger in einem "Zeit"-Interview zu seinem 80. Geburtstag. Zehn Jahre später, erklärt er dem Bayerischen Rundfunk: "Es ist verrückt.
Je weniger man schreibt, desto mehr Bücher erscheinen von einem." Doch die Produktivität Enzensbergers ist ungebrochen, auch im Jahr seines 90. Geburtstags, den er am 11. November feiert. Enzensberger wird in Kaufbeuren im bayerischen Allgäu geboren. Eine katholische Familie des "höheren Kleinbürgertums", schreibt der Journalist Jörg Lau in seiner Biografie - "gebildete, staatstragende Leute mit musischen Interessen, aufgeschlossen für moderne Technik".
Enzensberger wächst mit drei jüngeren Brüdern in Bayern auf. Dort besucht er das Gymnasium, bis er 1944 zum NS-Volkssturm eingezogen wurde. Das Abitur holt er nach Kriegsende nach. Von 1949 bis 1954 zieht Enzensberger für ein Studium der Literaturwissenschaft, Sprachen und Philosophie nach Erlangen. Weitere Stationen seiner Studienjahre sind Freiburg im Breisgau, Hamburg und Paris.
"Zorniger junger Mann"
Zurück in Deutschland promoviert Enzensberger "Über das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk". Ursprünglich hatte er über Hitlers Rhetorik schreiben wollen. Als er sein Thema vorschlug, reagierten die Professoren mit Fassungslosigkeit und Entsetzen; Enzensberger gab das Thema auf. 1957 erscheint sein erster Gedichtband "verteidigung der wölfe" mit politischer Lyrik. Dieser wird über Nacht zum Erfolg. Alfred Andersch, Gründungsmitglied der Gruppe 47 und Mentor von Enzensberger, bezeichnet ihn als den "zornigen jungen Mann", der einer Generation Sprache verliehen habe.
Enzensbergers Drang, Deutschland für eine Zeit zu verlassen, begleitet ihn fortwährend. Seine Fluchtversuche seien eine "vitale, geradezu körperliche Reaktion auf die deutschen Verhältnisse" gewesen", erklärt der Literat dem "Spiegel". Mit seiner frischvermählten Frau, der Norwegerin Dagrun Averaa, zieht er in deren Heimat.
Bereits 1963 erhält er den Georg-Büchner-Preis. Im selben Jahr reist er das erste Mal in die Sowjetunion. Seine Erinnerungen an diese Zeit, die Liebesbeziehung zur jungen Russin und späteren Ehefrau Mascha sowie die Trennung von seiner norwegischen Frau hat Enzensberger im Roman "Tumulte" aufgeschrieben.
Kontakt zur RAF
Neben der Veröffentlichung von Lyrik und Essays arbeitet Enzensberger in den 60er und 70er Jahren an seiner Zeitschrift "Kursbuch", die in den Jahren der Studentenproteste Sprachrohr der Aufständler wird. Auch mit der RAF hat er Kontakt, hält sich jedoch von den Aktionen der Terrorgruppe fern. Im Nachhinein bezeichnet er sie als "übergeschnappte Leute".
Mit seiner zweiten Ehefrau Mascha zieht Enzensberger Ende der 60er Jahre in die USA. Bereits nach drei Monaten verlässt er aus Protest gegen die Außenpolitik das Land und geht für ein Jahr nach Kuba. Die Ehe überlebt die turbulenten Zeiten nicht. Seine dritte Ehefrau wird Katharina Kaever, Redaktionsassistentin bei Enzensbergers Zeitschrift "Transatlantik". Diese gründet er Anfang der 80er Jahre, verlässt die Redaktion aber nach zwei Jahren wieder.
"Sie macht, was sie will"
In den darauffolgenden Jahren ist der Literat vor allem als Essayist aktiv. Er bezieht Stellung zur EU, zum Irak-Krieg, zum Terrorismus, den Gefahren der digitalen Welt und widmet ein Buch den 99 Lebensläufen und Überlebensgeschichten von internationalen Schriftstellern im 20. Jahrhundert. Im Frühjahr veröffentlicht Enzensberger "Eine Experten-Revue in 89 Nummern", die sich Spezialisten auf teils kuriosen Gebieten widmet, etwa Bierdeckel, Rolltreppen oder Hemdkragen.
Bereits 2014 gibt er sein Archiv als Vorlass an das Deutsche Literaturarchiv Marbach. Noch wenige Jahre zuvor hatte Enzensberger erklärt, dass ihm sein literarisches Erbe wenig Sorgen bereite. Es gebe Schriftsteller, die trieben Vorsorge bezüglich der Nachwelt. Für ihn sei indes klar: "Das erste Gesetz, was die Nachwelt betrifft: Sie macht, was sie will."