Vor 150 Jahren: Das Erste Vatikanum beginnt

Unfehlbarkeit des Papstes gegen ein dreifaches Trauma

Hat der Papst immer recht? Er ist schließlich unfehlbar. Am zweiten Adventssonntag jährt sich der Anfang des Ersten Vatikanischen Konzils zum 150. Mal. Auf dieser Bischofsversammlung wurde kontrovers über die Rolle des Papstes diskutiert.

Erstes Vatikanisches Konzil / © Ernst Herb (KNA)
Erstes Vatikanisches Konzil / © Ernst Herb ( KNA )

DOMRADIO.DE: Der Papst als letzte Instanz in Glaubensfragen. Warum war das im 19. Jahrhundert doch nicht so unumstritten, wie wir das heute vielleicht denken?

Jan-Heiner Tück (Professor am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien): Im Hintergrund der Definition des ersten Vatikanums, die sicher das bedeutendste kirchengeschichtliche Ereignis des 19. Jahrhunderts ist, stehen drei historische Traumata, die man in den Blick nehmen muss, um die Entscheidung zu verstehen.

Das ist erstens der Konziliarismus, der das Konzil über den Papst stellt, also auch sagt, päpstliche Lehrentscheidungen seien nur dann gültig, wenn sie die Zustimmung der Bischöfe finden. Zweitens das Trauma, dass es staatliche Eingriffe in die Freiheit der Kirche gibt, ab der Französischen Revolution unter Napoleon ganz massiv. Und drittens das Konfliktfeld, das mit dem Rationalismus der Aufklärung und dem politischen Liberalismus verbunden ist. Dagegen soll also die Autorität des Papstes gestärkt werden. Das ist zunächst einmal der Hintergrund, den man mit dem Blick haben muss, um die ganze Sache einzuordnen.

DOMRADIO.DE: Aber formal muss man ja sagen, dass der Papst ja eigentlich auch "nur" ein Bischof ist, nämlich der von Rom. Warum hat er überhaupt im Laufe der Jahrhunderte so eine Machtfülle bekommen?

Tück: Dahinter stehen natürlich jahrhundertelange Entwicklungen. Im ersten Jahrtausend, kann man sagen, war der Papst Zeuge des Glaubens, im zweiten Jahrtausend hat die Rolle des Papstes dann auch politische Konturen bekommen. Er hat, kurz gesagt, die Funktion eines absoluten Monarchen erhalten. Und diese Übertragung eigentlich des staatlichen Begriffes absoluter Souveränität auf den Papst und seinen Primat, der steht quasi im Hintergrund des ersten Vatikanums.

DOMRADIO.DE: Und doch gab es auf dem Konzil auch Kritiker an dem geplanten Unfehlbarkeitsdogma. Warum konnten die sich eigentlich nicht durchsetzen?

Tück: Im Vorfeld des Konzils gab es von Henri Maret oder von Ignaz von Döllinger die Kritik, dass die Betonung der absoluten Souveränität des Papstes einen Bruch mit der Tradition darstellen würde, weil die Rolle der Bischöfe hier quasi überspielt würde. Diese Kritik ist bei der Minorität (Minderheit) der Konzilsbischöfe auch angenommen worden, hat sich allerdings nicht durchsetzen können, weil die ultramontane Bewegung, die quasi beim Papst Zuflucht suchte und hier einen Ankerpunkt auch der katholischen Kirche etablieren wollte, sich letztlich durchgesetzt hat. Die Minoritätsbischöfe sind dann auch vor der Schlussabstimmung abgereist, um den damaligen Papst Pius IX. nicht zu brüskieren.

DOMRADIO.DE: Hintergrund war ja auch der deutsch-französische Krieg, der da als weltliches Ereignis ganz praktische Auswirkungen auf das Erste Vatikanische Konzil hatte. Welche Vorteile hat es denn damals für die Kirche gehabt, dass durch das Dogma der Papst als oberster Glaubenswächter unumstritten wurde?

Tück: Die Sache ist natürlich einigermaßen komplex. Das Konzil stellte ein ein Torso dar. Es musste wegen des Krieges vorzeitig abgebrochen werden, deswegen steht die Primatslehre ohne Einbettung in eine gesamtekklesiologische Konzeption da. Das ist sicher ein Nachteil. Das hat man dann so gedeutet, dass dem Papst quasi alle Kompetenzen zugeschrieben würden und dass eine bischöfliche Mitverantwortung an der Leitung der Gesamtkirche ausgeschlossen sei.

Diese Interpretation halte ich für falsch, weil aus den Konzilsakten hervorgeht, dass durchaus auch eine gesamtkirchliche Mitverantwortung des Bischofkollegiums eingeräumt wir; die hat allerdings nicht Eingang in die Definition gefunden. Da ist davon die Rede, dass der Papst aus sich heraus, "ex sese", wie es lateinisch heißt, entscheiden könne. Das steht da so audrücklich, weil man dem Konziliarismus oder dem Gallikanismus in keiner Weise entgegenkommen wollte. Ganz wichtig aber ist auch die Haltung, die Pius IX. gegenüber der Erklärung der deutschen Bischöfe eingenommen hat, die nämlich gegen Otto von Bismarck damals die Eigenständigkeit der Bischöfe auch gegenüber dem Papst zur Geltung gebracht haben.

Im Hintergrund steht eine geheime Zirkulardepesche, die Bismarck damals an die europäischen Staatsoberhäupter verschickt hatte, wo er vom absoluten Monarchen gesprochen hatte und die Bischöfe in der Rolle bloßer Beamter oder Exekutivorgane gesehen hatte. Dagegen opponieren die deutschen Bischöfe, und Pius IX affirmiert und unterstützt diesen Protest gegen Bismarck. Selten sind die deutschen Bischöfe aus Rom so gelobt worden wie damals. Das aber heißt, dass der Primat nicht maximalistisch gedeutet werden kann, sodass von einer Mitverantwortung der Bischöfe nicht mehr die Rede sein könnte.

Das heißt für uns heute auch nach dem Zweiten Vatikanum, das das erste ja ergänzt hat, dass man Primat und Episkopat, also die Rolle des Papstes und die Rolle der Gemeinschaft der Bischöfe, neu in eine Balance zu bringen hat, wenn man weiterkommen will.

DOMRADIO.DE: Das Zweite Vatikanische Konzil hat dann etwa 100 Jahre später die Themen nochmal aufgegriffen, etwa die Rolle der Bischöfe, die Rolle der Priester. Heutzutage betont ja Papst Franziskus die Gemeinschaft der Bischöfe und sagt immer wieder, dass die Rolle der Bischöfe vor Ort wichtig ist, vor Ort, in der Ortskirche. Wie kann denn heutzutage eine gute Balance zwischen dem Papst und den Ortskirchen gelingen?

Tück: Da muss man zunächst sagen, dass das Zweite Vatikanum eigentlich die Probleme noch nicht gelöst hat, weil hier zwei ekklesiologische Konzeptionen nebeneinanderstehen: einerseits das Communio-Modell, das die Gemeinschaft der Bischöfe stark macht, andererseits das ans Erste Vatikanum anschließende Modell der Kirche als hierarchisch strukturierter "societas perfecta". Jetzt gab es nach dem Konzil zunächst tendenziell wieder eine Stärkung des römischen Zentralismus.

Das kann man unter Johannes Paul II. beobachten, der Bischofsernennungen an den Ortskirchen vorbei durchgesetzt hat, der - wie bekannt - auch Diskussionsverbote erlassen hat. Papst Franziskus hat jetzt programmatisch eine heilsame Dezentralisierung eingeleitet, das heißt, er will synodale Elemente stärken. Das kann man bei den Bischofssynoden beobachten, die ja immer mit Umfragen begonnen haben, wo quasi der Glaubenssinn der Gläubigen erfragt wird, also alle Probleme offen und freimütig auf den Tisch kommen und dann quasi in Synoden, also mit den anwesenden Bischöfen gemeinsam, beraten wird. Darin liegt sicher eine Stärke und auch eine Korrektur der steilen Primatslehre des Ersten Vatikanums.

Dennoch würde ich vor einer romantischen Verklärung von Synodalität warnen, weil eine Weltkirche wie die katholische eben doch auch ein Amt der Einheit braucht, damit der Laden angesichts der Ungleichzeitigkeit gleichzeitiger Tendenzen nicht auseinanderfliegt. Das heißt also abschließend gesagt: Wir müssen den Primat des Papstes so konzipieren, dass er, mit dem Fundamentaltheologen Hermann Josef Pottmeyer gesprochen, die Gestalt eines Communio-Primats erhält, wo Einheit und Vielfalt so in die Balance gebracht werden, dass es zukunftsträchtig und vielleicht auch ökumenisch akzeptabler sein kann.

Das Interview führte Mathias Peter.


Jan-Heiner Tück, Professor für Dogmatische Theologie an der Universität Wien / © Dieter Mayr (KNA)
Jan-Heiner Tück, Professor für Dogmatische Theologie an der Universität Wien / © Dieter Mayr ( KNA )
Quelle:
DR