Auch elf Jahre nach seiner Emeritierung vom weltweit ältesten Lehrstuhl für Pastoraltheologe an der Universität Wien wird Paul Zulehner attestiert, "immer noch wie eine junge Gazelle durch die Weltgeschichte zu rasen". Das merkte Regina Polak, eine seiner Nachfolgerinnen, jüngst launig an. Der Theologe, der am Freitag (20. Dezember) 80 Jahre alt wird, hält an die 100 Vorträge pro Jahr; seine bis 1959 zurückreichende Publikationsliste ist schier endlos: 100 Monografien, rund 50 Bücher, etwa 700 Artikel, voll von aktuellen gesellschaftlichen sowie kirchenpolitischen Bezügen.
Seit Jahrzehnten untersucht und kommentiert Zulehner gesellschaftliche Entwicklungen - und leitet daraus Handlungsimpulse für Kirche und Seelsorge ab. Der Pastoraltheologe, Religionssoziologe und Werteforscher ist bekannt für seine pointierten Formulierungen und die Fähigkeit, Theologie auch einer breiten Öffentlichkeit anschaulich zu machen.
"Hybrid-Theologe des 21. Jahrhunderts"
Mit dem Prager Religionsphilosophen Tomas Halik (71) ist er Initiator der Online-Petition "Pro Pope Francis", mit der bis zur Übergabe an den Papst im Februar fast 75.000 Personen ihre Unterstützung für dessen Kirchenkurs bekundeten. Zulehners jüngste Petition "#Amazonien auch bei uns!" zielt darauf, dem Priestermangel nicht nur in Amazonien, sondern auch im deutschsprachigen Raum durch die Weihe "bewährter Personen" abzuhelfen - eine bewusste Erweiterung der "viri probati" (bewährten Männer). Nicht nur durch seine Aufforderung an die Bischöfe, gemäß der Aufforderung des Papstes "mutige Vorschläge" zu machen, zieht er den Un-Mut mancher Verantwortungsträger auf sich.
Zulehners Schülerin Klara Csiszar bezeichnet ihn als "Hybrid-Theologen des 21. Jahrhunderts", weil er sich sowohl der christlichen Tradition als auch der modernen Welt verbunden fühle. Seit jeher setzt Zulehner auf soziologische Instrumentarien zum "organisierten Wahrnehmen der Realität", wie er der österreichischen Nachrichtenagentur "Kathpress" erklärte. Die Welt sei immer ambivalent; "sie ist nicht so dunkel, wie die Fundamentalisten sie gerne hätten, und sie ist nicht so schön, wie die euphorischen Optimisten sie sehen". Es gebe Unterstützenswertes und Widerstand Erforderndes.
Kirche in der Gesellschaft
Die "Säkularisierung", der Zulehner 1973 seine Habilitationsschrift beim Würzburger Theologen Rolf Zerfaß widmete, hält er mittlerweile für einen untauglichen Begriff, um die "bunt" gewordene religiöse Landschaft heutiger westlicher Gesellschaften zu beschreiben. Wo immer Freiheit ist, ist Vielfalt, verwies Zulehner auf das letzte Buch des geschätzten US-Religionssoziologen Peter L. Berger (1929-2017). Dass die Kirchenbindung seit Jahrzehnten nachlässt, beschreibt der Wiener Theologe als Wiederannäherung an den "biblischen Normalfall" - nämlich als Minderheit "Salz und Licht der Welt" zu sein. Die Blütezeit des Nachkriegskatholizismus sei "erzwungen" gewesen; "jetzt haben wir eine gewählte Katholizität".
Für eine nötige "Restrukturierung der Kirche" im Sinn aufklärerischer Errungenschaften wie Gewaltenteilung und Geschlechtergerechtigkeit erwartet sich Zulehner mehr Impulse vom Synodalen Weg in Deutschland als von der jüngsten Amazonien-Synode in Rom - wo es vorrangig um den Schutz der Schöpfung und um Inkulturation gegangen sei. Papst Franziskus leiste aber mit seiner Dezentralisierung bzw. Synodalisierung einen wichtigen Beitrag und verweigere sich einem zentralistisch und dadurch viel leichter ausgeübtem Pontifikat.
Optimistischer Blick in die Zukunft
Die "Verbuntung der religiösen Landschaft" spiegelt sich auch in Zulehners wucherndem Garten wider; mit vielen von ihm selbst gepflanzten Bäumen und Blumen. Körperlich und geistig fit hält er sich, wie er erzählt, durch regelmäßiges Jogging im Wald hinter seinem Haus in Wien-Hietzing.
Vielleicht kommen ihm deshalb so oft Wortschöpfungen in den Sinn wie "Gottesgerücht", "Dach über der Seele", "Übergang gestalten statt Untergang verwalten", "Leute-Religion" oder eben "Verbuntung". Seine Kirchenvisionen fasst der deklarierte Optimist Zulehner immer wieder neu in griffige Prognosen: "In der Verflachung einer durchökonomisierten Nützlichkeitswelt werden die Leute wieder anfangen zu fragen: "War das jetzt alles?!" Spirituelle Fragen "über das Alltägliche hinaus" würden laut. Das sei noch keine Jesusnachfolge, weise aber in die richtige Richtung.
Auch in kommenden Generationen werde es Menschen geben, die in christlichen Gemeinschaften leben und Dienste an der Gesellschaft leisten - im Sinne der Absicht Jesu, dass ein bisschen vom Himmel auf die Erde kommt, zeigt sich Zulehner zuversichtlich. Um gesellschaftliche Strahlkraft zu entwickeln, dürfe sich heutiges Christentum nicht darin erschöpfen, "dass viele Gemeinden am Sonntag einen religiös verschönten Konditoreibesuch feiern". Es sei die "Kernschwäche" der Kirche, "dass wir zusammenkommen, aber Gott die Wandlungsbereitschaft verweigern und nicht anders rausgehen, als wir hineingegangen sind: hinein als um uns besorgte Angsthasen, hinaus als hoffnungskräftige Fußwaschende".