Als Blinde in der Großstadt unterwegs

"Ich würde mir wünschen, dass man mehr auf den Anderen achtet"

Marisa Sommer kennt den Kölner Dom – aber sie kann ihn nicht mehr sehen. Durch eine Krankheit erblindete sie vor 18 Jahren. Mittlerweile hat sie ihre Tricks und Routinen, um in der Großstadt zurecht zu kommen. 

Ein sehbehinderter Mensch mit einem Blindenstock / © Jörg Loeffke (KNA)
Ein sehbehinderter Mensch mit einem Blindenstock / © Jörg Loeffke ( KNA )

DOMRADIO.DE: Wir haben gerade in einer Umfrage gehört, in der Leute erklären, wo sie für Blinde die Stolperfallen im Alltag sehen. Stufen oder Emotionen von Menschen mitbekommen ohne sie zu sehen. Was haben Sie gedacht, als Sie das gehört haben?

Marisa Sommer (Engagiert im Blinden- und Sehbehindertenverein Köln): Es ist schon sehr spannend, was sehende Menschen denken, wie wir Blinde leben. Stufen sind aber überhaupt kein Problem. Die bekomme ich ja mit meinem Blindenlangstock immer mit  - egal ob runter oder hoch.

Und die Emotionen der Menschen: Ich bin überzeugt davon, dass man an Stimmen viel mehr erkennt, als an Gestik und Mimik. Gestik und Mimik ist lernbar, die Stimme ist nicht so einfach zu lenken.

DOMRADIO.DE: Das heißt, man kann sich nicht so dahinter verstecken? Hinter einem falschen Lächeln zum Beispiel?

Sommer: Richtig, da kann man sich nicht hinter verstecken. Jemand kann mich anlächeln und trotzdem total genervt sein und ich werde es an der Stimme hören.

DOMRADIO.DE: Sie sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu uns gekommen und am Bahnhof angekommen. Man kennt ja die Wege, findet sich in der Stadt zurecht. Aber es wird wahrscheinlich problematisch, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, oder?

Sommer: Ja, selbstverständlich. Alle Wege, die ich in Köln gehe – und das sind sehr viele, auch mit Straßenbahn, mit dem Bus und mit Umsteigen – die sind alle möglich, weil man die quasi wie eine Karte im Kopf hat.

Wenn ich aus dem Haus gehe, habe ich meine Orientierungspunkte, die ich ablaufe, wie eine Karte vor meinem inneren Auge. Ändert sich etwas, ist es wirklich schwierig. Dann steht man meistens da und muss um Hilfe bitten.

In Köln fahren zum Beispiel die Linien 3, 4, 16 und 18 gerade anders, weil der Innenstadttunnel gemacht werden muss. Das habe ich aber vorher im Radio gehört und mich im Vorfeld im Internet informiert. Solche Dinge sind natürlich wichtig für uns Blinde.

DOMRADIO.DE: Sie sind nicht von Geburt an blind, sondern vor 18 Jahren durch eine Autoimmunschwächekrankheit erblindet. Das ist eine enorme Umstellung. Wie haben Sie das damals erlebt?

Sommer: Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob man von Geburt an blind ist, oder spät erblindet ist, so wie ich. Ich bin im Alter von 40 Jahren erblindet. Das ist schon ein hartes Brot, selbstverständlich. Aber für mich gab es einfach nichts anderes.

Entweder setze ich mich zu Hause hin und warte, bis der Tod mich holt oder ich werde zur hilflosen Person oder ich nehme mein Schicksal in die Hand. Und ich musste nachdenken, wie ich Alltagsdinge anders machen kann.

DOMRADIO.DE: Auf was muss man sich da umstellen?

Sommer: Auf alles. Es fing schon mit dem Mobilitätstraining an, also das Bewegen im öffentlichen Raum. Das ist eine ganz besondere Herausforderung für alle Blinde. Aber es waren auch alltägliche Dinge im Haushalt. Wie schütte ich mir einen Kaffee oder ein Glas Wasser ein? Wie ziehe ich mir die Socken an, ohne die Ferse oben zu haben? Meine Tochter war damals gerade 12 Jahre alt, als ich erblindete und man muss funktionieren.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie sich den Umgang der Menschen mit Blinden anschauen, würden Sie sagen, dass sie damit zufrieden sind, oder wünschen Sie sich bei manchen Dingen einen anderen Umgang?

Sommer: Ich glaube, das würde Ihnen jeder Blinde gleich beantworten. Es ist in so einer Großstadt immer sehr schwierig. Die Menschen sind natürlich sehr mit sich selbst beschäftigt. Alles rennt seinen Dingen hinterher. Und es ist schon sehr viel Ignoranz. Ich würde mir wirklich wünschen, dass man mehr auf den Anderen achtet und zum Beispiel sein Fahrrad nicht vor dem Geschäft abstellt, weil man nur schnell mal rein geht.

DOMRADIO.DE: Sie hatten lange Zeit einen Blindenhund. Ist das ein gutes Hilfsmittel?

Sommer: Ja, das ist ein großartiges Hilfsmittel. Der Blindenführhund hat einen ganz großen Vorteil: Er zeigt einem auch Höhenhindernisse an. Mit meinem Blindenlangstock bekomme ich immer nur alles vom Boden bis zur Taille erfasst. Alles was darüber ist, wie zum Beispiel das Lenkrad eines Fahrrads, nehme ich einfach mit. Oder die Mülltonnen an den Haltestellen. Die haben unten keine Füße, da läuft man auch schnell gegen.

Das passiert mit dem Blindenführhund natürlich nicht. Aber man hat auch eine Verantwortung, eine Fürsorgepflicht. Und man muss natürlich mit einem Blindenführhund bei Wind und Wetter raus gehen, denn ein Blindenführhund kann nicht nur arbeiten, er ist auch ein ganz normaler Hund.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie jemand an der Straßenbahnhaltestelle trifft, was wäre dann der Umgang, den Sie sich wünschen? Lieber auf Sie zugehen und fragen, ob Sie Hilfe brauchen oder machen Sie das von sich aus?

Sommer: Ich würde mir einfach wünschen, dass noch mehr Menschen bewusster durch die Stadt gehen und mich ruhig ansprechen. Ruhig fragen „Brauchen Sie Hilfe und wie kann ich Ihnen helfen?“ Und ich werde dann darauf antworten, ob ich gerade in dem Moment Hilfe benötige oder nicht. Es gibt natürlich immer Menschen, die einem helfen. Wenn ich unterwegs bin, treffe ich immer irgendjemanden. Nur die Anzahl ist gering.

DOMRADIO.DE: Aber im schlimmsten Fall ist die Gesellschaft für einen da und ein Weg findet sich immer?

Sommer: Der Weg findet sich immer. Und man muss auch lernen – ich habe es auch gelernt – um Hilfe zu bitten. Ich habe auch kein Problem damit, irgendwo zu stehen und zu rufen „Hallo, Entschuldigung, ist hier jemand?“, wenn ich jemanden höre. Ich sage „Ich brauche Hilfe“ und mir wird dann auch geholfen. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die dann einfach an einem vorbeilaufen. Das gibt es natürlich auch.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Quelle:
DR
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