DOMRADIO.DE: Wie präsent sind heute die NS-Zeit und deren Opfer in den Köpfen der Menschen?
Monsignore Robert Kleine (Kölner Stadt- und Domdechant): Ich glaube, dass es schon präsent ist, aber leicht verdrängt oder abgehakt wird. Die meisten Menschen wissen es oder bekommen es mit, dass vor 75 Jahren das KZ Auschwitz befreit wurde. Darüber wird nun einiges wieder geschrieben und gesprochen.
Aber es ist in den Köpfen, glaube ich, nicht zu verstehen, was für Gräuel bei der Befreiung von Auschwitz sichtbar wurden, wenn man nur an die Leichenberge denkt. Es ist auch für mich unvorstellbar, wie Menschen das mithilfe einer ganzen Tötungsmaschinerie anderen antun können. Selbst wenn man versucht, das zu begreifen, kann man sagen: "Das war ja damals und ist schon lange her".
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen denn die "Stolpersteine"?
Kleine: Die "Stolpersteine" wollen zum einen erinnern. Da sind Menschen mit einem Namen, Personen wie du und ich, einfach deportiert und ermordet worden. Die "Stolpersteine" sollen auch, wie der Künstler Gunter Demnig sagt: "Steine im Weg sein". Sie sollen daran erinnern, was damals gewesen ist und warnen, dass es das nie wieder gibt.
Vielleicht verblasst inzwischen die Erinnerung an die Gräueltaten des Nazi-Regimes und ein wenig verblassen auch die "Stolpersteine". Wenn tagtäglich jemand darüber geht, dann sind die Steine in den großen Einkaufsstraßen oder an den gut begangenen Wegen blank. Aber wenn irgendwo "Stolpersteine" etwas Abseits liegen, dann bekommen sie Patina. Das wird jetzt weggeschrubbt, weil es darum geht, den Namen auf dem Stein wieder sichtbar zu machen und klarzumachen, dass da nichts dunkel werden sollte, sondern die Erinnerung lebendig bleiben muss.
Vor allem ist es nötig, dass so etwas nicht mehr wieder vorkommen kann. Leider gibt es ja schon kleine Pflanzen des Antisemitismus, die es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer gegeben hat, die aber in unserer Zeit langsam größer werden.
DOMRADIO.DE: Köln putzt heute die "Stolpersteine" als Zeichen gegen rechts. Die jüdische Liberale Gemeinde und Oberbürgermeisterin Henriette Reker rufen dazu auf. Sie als Stadtdechant putzen auch mit. Was wollen Sie persönlich denn damit für ein Zeichen setzen?
Kleine: Ich nehme mir einen Stein vor, der in der Nähe des Domforums liegt. Ich muss sagen, dass ich auch schon manchmal unaufmerksam daran vorbeigegangen bin. Mir wird dann aber nochmal klar, dass auch in den Häusern um den Dom herum damals Juden gewohnt haben, die deportiert worden sind. Das sieht man ja überall in der ganzen Stadt. Das waren Nachbarn, die plötzlich abgeholt wurden. Ich möchte damit auch ein Zeichen setzen.
DOMRADIO.DE: Antisemitismus ist heute immer noch ein Thema. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Kleine: Der Rabbiner in Köln ist angesprochen worden, weil er durch seine Kippa als Jude zu erkennen war. Dies geschah nach dem Motto: "Ich mach für dich keinen Platz in der Bahn" oder "Vor einigen Jahrzehnten wäre es nicht möglich gewesen, dass du hier so rumläufst" oder "Warum bist du nicht in Israel"? Da frage ich mich, was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht, die so etwas sagen oder andere Männer mit Kippa verfolgen und sogar gewalttätig werden. Ich kann das nicht verstehen.
Aber ich glaube, dass es einen latenten Antisemitismus auch in unserer Stadt und überall in Deutschland gibt. Es gibt Verschwörungstheorien von den Juden, ihrem Geld und angestrebter Weltherrschaft. Das sind so wahnsinnige Verschwörungstheorien, die man leider Gottes im Internet findet. Plötzlich äußert sich das dann darin, dass ein Mensch, den man gar nicht kennt und der einen anderen Glauben hat, aufgrund seiner Herkunft und seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Religion angegriffen wird. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich finde es furchtbar.
Gerade als Christen sind die Juden unsere älteren Brüder. So hat das einmal Johannes Paul II. gesagt. Wir haben die gemeinsame Heilige Schrift, die Bücher des Alten Testaments. Deshalb müssen wir gerade als Christen aufstehen und wenn irgendjemand etwas gegen Juden und den jüdischen Glauben sagt, erwidern, dass das nicht geht. Dafür ist auch das Putzen der "Stolpersteine" ein wichtiges Zeichen.
Das Interview führte Julia Reck.