Jahrzehntelang waren sie verschlossen. Doch in zwei Wochen werden die Vatikanarchive zur Amtszeit von Papst Pius XII. geöffnet: Jenem Pontifex, der von 1939 bis 1958 amtierte und seit langem in der Kritik steht, nicht entschieden genug gegen die NS-Verbrechen protestiert zu haben.
Mehr als 200.000 Dokumente werden zugänglich gemacht
Am Montagabend wurde bei einer Podiumsdiskussion in Frankfurt mit hochrangigen Vertretern aus Wissenschaft, Kirche und Judentum eine zentrale Forderung laut: das seit Jahrzehnten laufende Seligsprechungsverfahren für Pius XII. zu stoppen oder zumindest auszusetzen.
Papst Franziskus hatte vor einem Jahr angekündigt, die Dokumente der vatikanischen Archive am 2. März 2020, dem 81. Jahrestag der Papstwahl Eugenio Pacellis zu Papst Pius XII., für die Forschung zugänglich zu machen.
Seligsprechungsverfahren aus Respekt stoppen
Dann werden "mehr als 200.000 archivalische Einheiten - Schachteln, Boxen und Mappen - von jeweils bis zu 1.000 Blatt Umfang" zugänglich sein, so der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf. Diese Zahlen bezögen sich nur auf das frühere "Vatikanische Geheimarchiv", das inzwischen "Vatikanisches Apostolisches Archiv" heißt. Darüber hinaus sollen weitere Bestände geöffnet werden.
Der Kirchenhistoriker, der an der Aufarbeitung der Archivbestände in Rom beteiligt ist, war einer der Teilnehmer auf dem Podium zum Thema "Neues über Pius XII. und die Schoah?" Wolf erregte Aufsehen mit einem Satz: "Seit 1965 läuft ein Seligsprechungsverfahren für Pius XII., das bis zur gründlichen Auswertung der jetzt neu zugänglichen Bestände gestoppt werden sollte." Dies verlange "der Respekt vor unseren jüdischen Freunden".
Neymeyr: "Warten, bis die Ergebnisse der Archivsichtung vorliegen"
Mit auf dem Podium saß der Beauftragte der katholischen deutschen Bischöfe für die religiösen Beziehungen zum Judentum, der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr. Mit der Forderung nach Aussetzung des Seligsprechungsverfahrens konfrontiert sagte er: "Da würde ich mich dem Votum von Professor Wolf anschließen, auf jeden Fall zu warten, bis die Ergebnisse der Archivsichtung vorliegen." Neymeyr verwies auf Beispiele von Bistümern, die solche Verfahren eingestellt hätten, nachdem antijüdische Predigten oder Publikationen des Betroffenen bekannt geworden seien.
Der Historiker von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, Johannes Heil, wies darauf hin, dass Päpste immer politisch handeln müssten. Als Kandidaten für Selig- und Heiligsprechungen seien sie daher "eher ungeeignet".
Pius XII. habe "nie selbstkritisch" auf die Kriegsjahre zurückgeblickt
Papst Pius XII., der 1958 starb, galt noch Jahre nach seinem Tod zahlreichen Gläubigen als "Engelspapst". Er habe sich in der NS-Zeit die Maxime "Retten statt Reden" zu eigen gemacht und damit etwa 80 Prozent der römischen Juden vor dem Tod bewahrt, so seine Verteidiger.
Doch 1963 wurde das Bild der moralischen Autorität nachhaltig erschüttert. Damals wurde das Theaterstück "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth uraufgeführt. Darin wirft der Schriftsteller dem Papst vor, in der NS-Zeit zu wenig gegen den Massenmord an den Juden getan zu haben. Seitdem sitzt Pius XII. quasi auf der Anklagebank.
"Die Vorstellung, dass ausgerechnet der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden angesichts der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte versagt haben könnte, erschütterte das Selbstverständnis der Institution 'katholische Kirche' zutiefst", so Wolf. Dazu komme, dass Pius XII. sogar in der Nachkriegszeit "nie selbstkritisch" auf die Kriegsjahre zurückgeblickt habe.
"Wie erklärt sich das große Schweigen der Kirche?"
Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, fragte in Frankfurt: "Wie erklärt sich das große Schweigen der katholischen Kirche zum Massenmord an den Juden während der Schoah?"
Unklar sei auch, inwieweit das Kirchenoberhaupt NS-Täter nach dem Krieg bei ihrer Flucht über die sogenannten Rattenlinien unterstützt habe. So bezeichnet man die Fluchtrouten von Nationalsozialisten nach Südamerika am Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter anderen sollen der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann und KZ-Arzt Josef Mengele auf diesem Weg nach Argentinien gereist sein.
Das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. sieht auch Schuster sehr kritisch. Eine Fortsetzung des Verfahrens "ohne umfassende Kenntnisse" aus der nun anstehenden Archivöffnung würde bedeuten, dass das Verhältnis des Vatikan zum Judentum nur ein "Lippenbekenntnis" sei, so Schuster.
Von Norbert Demuth