Erst ganz am Ende und dafür umso überraschender kam die Katze aus dem Sack. Eineinhalb Tage lang konnten bei der Verhandlung über die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung vor dem Bundesverfassungsgericht Ärzte und Psychologen darlegen, dass der Wunsch nach einem Suizid bei rund 90 Prozent auf eine behandelbare Erkrankung wie eine Depression zurückzuführen sei und der Wunsch nach Selbsttötung meist auf "antizipiertem Leid" beruhe, also der vermuteten Angst eines Patienten vor künftigen Schmerzen.
Mithin, so die meisten geladenen Sachverständigen bei der mündlichen Verhandlung im April in Karlsruhe, sei alles gut mit dem 2015 vom Bundestag verabschiedeten Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch. Es gebe keine negativen Auswirkungen für den Behandlungsalltag. Das Gesetz schaffe vielmehr einen klaren und vernünftigen Rahmen. Auf Skepsis stieß bei den Richtern des Zweiten Senats der frühere Hamburger Justizsenator Roger Kusch, der einen Sterbehilfeverein mitbegründet hatte. Die Richter wollten von ihm wissen, wieso der Vereinsbeitrag bis zu 7.000 Euro beträgt und ob es ein Vier-Augen-Prinzip bei der Begutachtung eines Selbsttötungswunsches gibt, was Kusch verneinte.
Wird der Paragraf in dieser Form bestehen bleiben?
Am Ende, in den drei letzten Stunden der zweitägigen Verhandlung, ging es um die rechtlichen Alternativen zum Paragrafen 217. Ob der Gesetzgeber sein Ziel nicht hätte "niederschwelliger", also außerhalb des Strafrechts hätte erreichen können, wollten die Richter wissen. Und ob es nicht eine zumindest kleine Gruppe Menschen geben könnte, die trotz aller medizinischen Fortschritte am Ende ihres Lebens für sich persönlich im Suizid den richtigen Weg sähen. Und ob ihnen nicht durch den neuen Paragrafen die Entscheidungsfreiheit genommen werde. Die Nachfragen der acht Richter wiesen einen überraschend hohen Gleichklang auf, und so lässt sich vermuten, dass der Paragraf in dieser Form nicht Bestand haben wird.
Eine gewisse Sympathie ließ sich für den Gedanken ausmachen, über eine Art Beratungslösung nachzudenken. Eine Kommission oder mehrere Ärzte unabhängig voneinander könnten sich mit dem Wunsch eines Patienten befassen, sein Leben beenden zu wollen. Eine solche Beratungslösung gibt es auch beim Paragrafen 218, der die Möglichkeit für Schwangerschaftsabbrüche regelt. Da die Richter aber keine Gesetzgeber, sondern Hüter der Verfassung sind, könnte eine entsprechende Anregung lediglich einen empfehlenden Charakter Richtung Parlament haben.
Debatte um den Paragrafen 217
Den Ausgangspunkt bildet eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2015, mit der der Bundestag das Auftreten von Sterbehilfevereinen beenden wollte. Dagegen wehren sich mit Verfassungsbeschwerden neben den Vereinen selbst auch Ärzte. Die Mediziner argumentieren, der Paragraf 217 stelle nicht sicher, dass im Einzelfall geleistete Suizidbeihilfe straffrei bleibe. Auch sei unklar, ob die Neuregelung bislang straffreie Formen der Sterbebegleitung und Palliativmedizin erfasse. Dies verhindere in der Konsequenz eine am Wohl der Patienten orientierte Behandlung.
Die Schwerkranken wollen einen Anspruch auf ärztlich unterstützte Selbsttötung geltend machen. Die Sterbehilfevereine wiederum sehen Grundrechte verletzt, weil ihre Mitglieder nicht tätig werden könnten. Laut Paragraf 217 drohen für die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren; nahestehende Personen eines Kranken sind allerdings ausgenommen und müssen keine rechtlichen Folgen für sich befürchten. Am Aschermittwoch werden sie alle wissen, wie das Bundesverfassungsgericht ihre Rechtsansprüche beurteilt.